KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS
Bei den Menschen in Armatlu. Protokoll eines angekündigten Selbstmordes.

Der letzte Sieg der Hülya Simsek

Von Walter Baier

Es ist ein aufregender Ausblick, den das hoch auf einem Hügel gelegene Kücük-Armatlu, auf den nächtlichen Bosporus erlaubt. Nur einen Steinwurf entfernt strömt der Verkehr über die Sultan-Mehmet-Ali-Brücke zwischen Asien und Europa. Die glitzernde Skyline von Istanbul scheint zum Greifen nah, und ist von hier aus, einem der Elendsquartiere der 12-Millionen-Metropole Istanbul, unerreichbarer als von Wien. Hier formiert sich Samstagnacht ein unheimlicher Zug zwischen den ärmlichen ebenenerdigen Häusern des Viertels. Seine Spitze bilden Kinder, sichtlich stolz auf ihren Auftrag, die Porträts der "Gefallenen" - Opfer des seit einem Jahr fortdauernden Todesfastens in türkischen Gefängnissen - vor ihrem Körper zu tragen. Hinter ihnen Vierer-Reihen stramm marschierender, Fackel bewährter junger Männer. Ihnen folgt in einem Respektsabstand von mehreren Metern die Bahre, auf der der Leichnam der 38-jährigen Hülya Simsek getragen wird.


Der letzte Weg der Hülya Simsek

Hülya Simsek, 32 Jahre, Biologiestudentin, aus einem kleinen anatolischen Dorf in die große Stadt gekommen, verstarb am 286. Tag ihres Hungerstreiks. Zur Unterstützung der Aktion ihrer GenossInnen in den Gefängnissen. Sie ist, wie man hier sagt, "gefallen", ist Märtyrerin " Als ihr durch monatelanges Hungern ausgezehrter toter Körper durch die in die Hände klatschende Menge aus dem Haus ins Freie getragen wird, sind es keineswegs nur mutige unter den NachbarInnen, die sich in den Zug einreihen. Aus ganz Istanbul kommen Angehörige und KampfgenossInnen, um die letzte Ehre zu erweisen. Sogar JournalistInnen haben sich hierher gewagt, obwohl das Gesetz vom Dezember des Vorjahres Berichterstattung über das Todesfasten mit Strafe bedroht. Den AktivistInnen ist es gelungen, nicht nur unsere Delegation durch die Polizeikontrollen zu schleusen, sondern auch Transparente und rote Fahnen einzuschmuggeln. So wird der letzte Gang der Hülya Simsek zur politischen Manifestation. Kein Fenster öffnet sich, als die roten Fahnen ausgeteilt sind und sich der Zug in Bewegung setzt. Im Gegenteil, unsichtbare Hände ziehen Vorhänge zu, Lichter erlöschen. Furcht und Verlegenheit sind manchem anzumerken, der sich bei Annäherung der Prozession mit den roten Fahnen ins Haus flüchtet. Und trotzdem schwillt die Menge hinter der Bahre an. Mit jeder Schleife, die sie durch das Viertel zieht, beweist die illegale politische Opposition: Wir sind da!

Die Grenze

Bei der dritten Runde nähert sich der Zug dem Checkpoint an der Hauptzufahrtsstraße, wo Militär und Polizei Wasserwerfer und Bergepanzer (zur Beseitigung von Barrikaden) in Bereitschaft halten. Aber genau in dem Moment, in dem sich das Kamerateam von CNN-Türkei aufbaut, um einen bevorstehenden Gewaltausbruch zu dokumentieren, schwenkt der Zug ab, verschwindet im Dunkel der geduckten Häusern. Auch die Einsatzkräfte respektieren in dieser Nacht die Grenze, die Kücük-Armatlu und Istanbul trennt. Zumindest in den Nachtstunden wagen sie es nicht, in das Viertel vorzudringen.
Die Prozession zieht eine weitere Runde. Auf dem unbeleuchteten Parkplatz vor dem Gemeindezentrum, einer einfachen Baracke, die nichts weiter als einen langgestreckten Versammlungssaal, beherbergt, findet die Abschlusskundgebung statt. Tische wurden zu einem großen U zusammengestellt. Die Träger stellen die Bahre mit der Toten im Zentrum ab, die Menge bildet einen weiten Kreis. An der Stirnseite nehmen die Angehörigen ihren Ehrenplatz ein. Rechts und links von ihnen heben sich im flackernden Licht der Fackeln, die ausgezehrten Gesichter von etwa 30 Todesfastenden mit ihren roten Stirnbändern und dem gelben Stern aus der Dunkelheit ab. Sie wurden hier her gebracht, um von ihrer Genossin Abschied zu nehmen. Reden werden gehalten. Den Abschluss bilden die Bekenntnisse der vom Tode gezeichneten Hungerstreikenden. Kaum eineR, der noch kräftig genug wäre, mehr als einen kurzen Satz ins Mikrofon zu hauchen. Mit Unterstützung Umstehender strecken manche bis auf die Knochen abgemagerte Arme mit der geballten Faust in die Luft. Nach diesen - letzten - Bekenntnissen stimmen einige Männer in der Menge die Internationale an. Abschluss. Der letzte Ton ist verklungen, Fahnen und Transparente werden eingesammelt, die Todesfastenden von kräftigen Armen in Kleinbusse gehoben. In wenigen Minuten verschwindet die Trauergemeinde im Nichts der Nacht. Armatlu hat eine politische Demonstration trotz Einkesselung durch das türkische Militär erlebt. Der letzte Sieg der Hülya Simsek.

Simulierter Rechtsstaat

Szenenwechsel. TAYAD, das Komitee der Angehörigen hat vorgeschlagen, dass wir als "internationale Beobachter-Gruppe" an der Eröffnung der Verhandlung gegen 200 Häftlinge des Üramye-Gefängnisses teilzunehmen. Vier Tage hatten voriges Jahr einige Tausend Polizisten und Soldaten den Komplex belagert und mit Giftgas bombardiert, ehe sie eindringen konnten, und den hungerstreikenden politischen Häftlingen angedeihen ließen, was sie die Rettung ihres Lebens nannten. Die Bilanz dieser "humanen Intervention": 30 getötete Häftlinge und hunderte Schwerverletzte.
Dafür sollen nun 198 Überlebende sich wegen "Widerstands gegen die Staatsgewalt", "illegalen Waffenbesitzes" und der "Tötung eines Polizisten" vor Gericht verantworten. Aus "Sicherheitsgründen" werden aber statt 198 Angeklagten nur zwölf Frauen vorgeführt. Aus "Sicherheitsgründen" wurde ein Verhandlungssaal im unbedeutenden Bezirksgericht von Üsküdar ausgewählt, der selbst die Teilnahme von Angehörigen ausschließt. Eine öffentliche Verhandlung ist nicht vorgesehen. Schon beim Versuch, das Gerichtsgebäude zu betreten, wird uns die Ambivalenz der Situation vorgeführt. Dass man uns hier nicht haben will, ist nach dem ersten Blickkontakten mit dem diensthabenden Offizier der Justizwache klar. Trotzdem entfalten die Wörter "Journalist" und "EU" eine interessante Wirkung. Man weiß hier um die Macht der Bilder, die via Zeitungen und Fernsehen verbreitet werden. Die Umständlichkeit, mit der man uns abwimmeln möchte, zeigt die Verlegenheit der Behörde.
Trotz allem - auch zu unserer Überraschung - erreicht das Verteidiger-Team unsere Zulassung zum Prozess. Also "wir Journalisten aus der EU" plus die Türkisch-Dolmetscherin mit dem österreichischen Pass dürfen hinter der letzten Reihe der Anwälte zwischen Kisten und Aktenschränken Stehplätze einnehmen, rechts und links flankiert von Bewaffneten, die uns aus "Sicherheitsgründen" ihre MPs unter die Nase halten.
Die Szene, deren wir nun sieben Stunden lang teilhaftig werden, entbehrt trotz ihres für die zwölf angeklagten Frauen bedrohlich ernsten Hintergrundes nicht der Groteske. Ein Richter, zwei Beisitzer, der Staatsanwalt, der während des Verfahrens, dem er aus Langeweile in der Nase bohrend folgt, kein einziges mal das Wort ergreift und 24 VerteidigerInnen mimen einen Strafprozess, dem allerdings das Kernstück eines solchen, das Beweisverfahren, abgeht. Aus "Sicherheitsgründen" wird nämlich auf die Vorladung von Zeugen verzichtet, Beweismittel - etwa ein angeblich bei den Häftlingen gefundenes Gewehr - werden von der Anklage nicht vorgelegt. Im Wesentlichen beschränkt sich daher das Verfahren auf die Einvernahme der Frauen, die in übereinstimmenden Aussagen ein erschütterndes Bild der Vorgänge im Ümranye geben. Um 4.15 Uhr hätten am 19. Dezember die Soldaten begonnen, Löcher in die Wände der von Häftlingen besetzten Gemeinschaftszellen zu bohren. Dann sei ein Gas in die Räume gepumpt worden. Daraufhin seien einige der Frauen sofort zusammengebrochen, andere hätten sich stundenlang in Krämpfen gewunden. Die Haut habe unter der Kleidung gebrannt, innere Organe geschmerzt, als würden sie bersten.
Trotzdem habe man sich vier Tage ohne Nahrung, ohne Wasser bei beißender Kälte verteidigt. Keine der Frauen - zwei unter ihnen befinden sich im unbefristeten Hungerstreik - bekennt sich "im Sinn der Anklage" schuldig; keine bedauert, mit allem, dessen sie habhaft werden konnte, den Militärs Widerstand geleistet zu haben. Um 19 Uhr wird die Verhandlung unterbrochen, die Frauen, die politische Losungen rufen und die Hände zum Victory-Zeichen in die Luft recken, werden unter Prügeln von seiten der Justizwache abgeführt. Am Tag darauf, auf dem Weg zum Flughafen, höre ich, dass das Verfahren gegen die Frauen wegen der Mängel des Prozesses eingestellt wurde, was allerdings für die Betroffenen nichts ändert, da sie alle noch mehrjährige Haftsstrafen abzubüßen haben.

Europas politische Klasse ist verantwortlich

Nirgendwo sonst in der Türkei wird der tiefe Graben, der die türkische Gesellschaft trennt, so fühlbar wie in Istanbul. "Global City", Zentrum der türkischen Hochfinanz und Head quarter hier aktiver Transnationaler Konzerne. Der Taksim, im Zentrum der Stadt, wo ich einen befreundeten Rechtsanwalt treffe, ist von Kücük-Armatlu so weit entfernt wie Down-Town Johannesburg von Soweto zu Apartheid-Zeiten.
Samstagabend wälzen sich Massen westlich gekleideter junger Menschen durch die Fußgängerzone. Nicht nur die "jeunesse dorée" der Großbourgeoisie, sondern ein nicht so schmaler Mittelstand füllt Restaurants und Diskotheken. Eine politische Tatsache ist, dass seit dem 19. Dezember vorigen Jahres, als das Militär die Gefängnisse stürmte, das Interesse für das Schicksal der politischen Gefangenen deutlich abgenommen hat. Mit der Gewaltorgie, der 30 Menschen zum Opfer fielen, erreichte und überschritt es gleichzeitig seinen Höhepunkt. Der türkische Staat hat die Funktionsweise der Mediengesellschaft richtig kalkuliert. Nicht nur die Pressezensur, die alles betrifft, was im Zusammenhang mit den Gefängnissen steht, wirkt als Isolierschicht. Dass nur wenige Kilometer von den Redaktionen entfernt jede Woche ein junger Mensch einen frei gewählten Hungertod stirbt, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren, gibt nach Monaten der Gewöhnung allenfalls eine Kurzmeldung her. So scheint es, als habe sich die türkische Gesellschaft mit der Ungeheuerlichkeit der Vorgänge abgefunden.
Darauf machen auch Teile der Linken aufmerksam, die die TodesfasterInnen in einer tragisch ausweglosen Situation sehen. Dem türkischen Regime sei, so wird von dieser Seite argumentiert, die Selbstaufopferung der Kader sogar recht. Jedenfalls aber, so auch die SkeptikerInnen, sei es Aufgabe der europäischen Öffentlichkeit, die menschenrechtswidrigen Verhältnisse in der Türkei zum Thema zu machen. Europas politische Klasse ist mitverantwortlich. Daher muss jetzt der politische Druck in Richtung jener Änderungen ausgeübt werden, die eine Beendigung der Hungerstreiks möglich machen.

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