KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

„Schmeiss mich doch in eine Kiste“

Von Bärbel Mende-Danneberg (10.6.2007)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (2) – Jahreswechsel 2003–2004 – Dass Mutter so durcheinander ist, bedrückt mich. Niemand hatte mir davon etwas gesagt, bevor sie kurzerhand von Berlin nach Wien verfrachtet wurde, damit ich sie betreue. Ich bin ja jetzt in Pension und habe Zeit dazu, hat mein älterer Bruder gesagt, der bis dahin nach ihr geschaut hatte. Mutter versorgte sich dort noch allein in ihrer kleinen Wohnung. Nun lebt die fremde Frau, die ich seit Jahrzehnten nur von Kurzbesuchen kenne, bei meinem Mann und mir in unserer Wohnung in Wien und an den Wochenenden in unserem Häuschen im Waldviertel.

Weihnachten, Jahreswechsel, fast drei Wochen waren wir mit Mutter im Waldviertel, viel Sonne, viel Schnee, feiern und fressen. Zu Weihnachten waren vier Generationen beisammen – Mutter, ich als ihre Tochter, meine Tochter als ihr Enkelkind und meine Enkelkinder als ihre Urenkel. Urahne, Ahne, Mutter und Kind … Es war ein sehr schönes Fest mit Singen, Erzählen, Bergen von Geschenken, schönem Essen und einer Mutter, die sich sowohl über den Weihnachtsbaum als auch über die Geschenke und die vielen Kinder gefreut hat. Am meisten liebt sie ihr Lammfell, das sie geschenkt bekommen hat – das ist ihr Hund, sagt sie und geht auch schlafen damit.

Zu Silvester kam viel Besuch und Mutter wollte um Mitternacht geweckt werden. Das war dann gar nicht nötig, weil sie erst gar nicht schlafen gehen wollte. Sie hat mit mir zu Mitternacht Walzer getanzt und war fidel und munter. Und dann nach Mitternacht ist sie mit uns hinaus auf die schneebedeckte und mit Fackeln und Kerzen geschmückte Wiese hinter dem Haus gegangen und ist aus dem Staunen nicht herausgekommen: Die Kinder und Erwachsenen sind ins Neue Jahr gerodelt, haben mit Sekt angestoßen und Donauwalzer getanzt, und Mutti hat immer wieder zum Feuerwerk in den Himmel geschaut und gesagt: Das habe ich ja seit Jahren nicht mehr gesehen. Erst um ein Uhr morgens hat sie gemeint, jetzt sei es wohl Zeit, ins Bett zu gehen.

Das hatte ich mir ja vorgenommen: Mutter noch ein schönes Weihnachten und Silvester zu bereiten. Und mit der Unterstützung meines Mannes ist das auch gelungen.

Jänner 2004

Mutter sitzt im Sessel und flüstert die Namen ihrer Töchter vor sich her, schaut mich mit leeren Augen an, sagt, ihre Töchter würden sich nicht um sie kümmern. Sie redet mich mit „Sie“ an. Dann meint sie, dass sie nun aufstehen und nach Hause gehen wird, ist ganz bestürzt, wenn ich ihr sage, sie sei doch jetzt hier zu Hause. Dann wieder ist sie erleichtert, dass sie hier ein Bett hat. „Wann bin ich denn heute Morgen gekommen“, fragt sie. „Mit mir ist nichts mehr los“, sagt sie, „schmeiß mich doch in eine Kiste.“

Nervig ist ihr Rücksichtl-Vorsichtl – „störe ich?“ „Bin ich im Weg?“ Und nervig ist ihr nachmittäglicher Anspruch, dass man sich mit ihr beschäftigt. „Ich sitze ja nur rum, ich geh jetzt schlafen“, sagt sie um drei Uhr nachmittags. Wenn ich ihr sage, ich habe zu tun, ich kann nicht den ganzen Tag neben ihr sein, es sei aber zu früh zum Schlafen, weil sie sonst nachts nicht schläft, ist sie beleidigt.

Ich muss aufpassen, dass ich nicht ungeduldig werde. Mutter kann ja nichts dafür, wenn sie oft in die Hosen macht oder vergisst, sich Einlagen in die Unterhose zu geben. Auch das laute Sprechen ist für mich ungewohnt und ich werde ungeduldig, wenn ich manches dreimal sagen muss und sie es immer noch nicht verstanden hat. Dabei bemüht sie sich, alles recht zu machen.

Ich habe mit Mutti gemalt, Weihnachtsbäume, die sie verzieren sollte. Sie erinnert sich aber schon gleich darauf nicht, dass sie die Bilder gemalt hat. Gestern habe ich ihr gesagt, dass ich ihr Kind bin, nachdem sie meinte, von ihrer Sippe ist niemand mehr da. Da in deinem Bauch war ich, habe ich gesagt und ihren Bauch gestreichelt. Sie: „Aber das hast du mir bisher ja noch nie gesagt …“ Sie ist schon komisch manchmal.

Februar 2004

Heute ist Mutti nicht gut drauf, es schüttelt sie, schlecht ist ihr und sie ist den ganzen Vormittag gelegen. Habe ihr Gallentropfen gegeben und dann doch wieder diese Durchblutungspi­llen. Aber mittags wollte sie Nudeln mit Gulasch essen, und es hat ihr auch geschmeckt. Wenn sie so zittert und kreidebleich in ihrem Bett liegt, frage ich mich immer, ob das wohl nun der Anfang vom Ende ist. Und was ich dann machen soll. Da kommt der Tod dann immer sehr nah ran an mein Denken.

Mit meiner Tochter habe ich eine wunderschöne Abmachung: Sie schaut einmal wöchentlich gegen Bezahlung abends auf Mutter, sodass mein Mann und ich einen fixen Abend frei haben. Wir können diese Hilfe gebrauchen, und meine Tochter kann das Geld gebrauchen, dazu ist das Pflegegeld ja schließlich auch da. Ich werde auch vom Fonds Soziales Wien einen Besuchsdienst beantragen. Der kommt zweimal wöchentlich tagsüber für zwei Stunden, Wegzeit muss abgerechnet werden. So kann ich wenigstens einkaufen gehen, ohne Angst zu haben, dass Mutter etwas passiert.

Manchmal schaue ich Mutter lange an, ihre aufrechten Falten in den Augenbrauen, ihre Hängebäckchen, das zerfurchte Gesicht, die kleinen Mausaugen, die je nach Stimmung glänzen oder stumpf sind, manchmal voll Angst – „wo schlafe ich?“ -, die langen Ohrläppchen, die Hängelippe, wenn sie vor sich hin brummelt, das verschmitzte Mündchen, wenn sie einen Scherz machen möchte und alle Wörter durcheinander bringt, ihr immer noch schöner Körper, die gerade, lange Nase, die etwas von Stolz oder Würde ausdrückt, der krumme Rücken und die Hände, die immer irgend etwas zum Fummeln haben, das Zittern, wenn sie „der Teufel reitet“, und dann vor allem: dieses so ganz erstaunte Kindergesicht, wenn sie nicht mehr versteht – inhaltlich und akustisch -, was um sie herum geschieht, warum sie eigentlich hier ist. Mutter ist eine schöne Frau im Alter, nicht abstoßend, aber doch so verloren. Meine Mutter, mein Kind.

Heute bin ich mit Mutter wieder den ganzen Tag seit mittags alleine. Da wird der Tag lang. Und am liebsten hätte sie es, würde ich den ganzen Tag neben ihr sitzen, das ist schwer zum Aushalten. Vor allem nachmittags ist sie immer ganz weinerlich, sagt wie ein kleines Mädchen mit Piepsstimme „o dankeschön“, wenn ich ihr etwas hinstelle und schaut mich immer so bittend an, „komm, willst du abbeißen?“, „setz dich doch“, „sitzt du auch bequem?“ In solchen Stimmungen kann man noch weniger als sonst mit ihr reden, und draußen schneit es in Strömen. Spazieren gehen ist auch nichts.

Am Freitag ist mein Mann mit Mutter ins Museum gegangen und hat sich eine Klimt-Ausstellung angesehen, das schien ihr gefallen zu haben. Aber heute ist sie ganz verloren. Sie weiß weder, dass sie vier Kinder hat, kennt ihre Namen nicht, weiß nicht, wer ich bin oder wie ich heiße – „Mariechen“, sagt sie und lacht und zuckt die Achseln -, fragt, wo sie schlafen kann. Das, was ich ihr erzähle, ist im nächsten Moment in allen Winden. Das ist mühsam, es ist, als würde man in einen Trichter mit Schalldämpfer sprechen. Oder in Watte. Nichts bleibt hängen. Vielleicht braucht man für eine solch perspektivlose Pflege eine spezielle Betreuung als Angehöriger. Ich merke nur, wie ich manchmal ziemlich nahe am Weinen bin.