KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Der Pflegestufenschätzer fand Stufe 2 angemessen ...

Von Bärbel Mende-Danneberg (5.5.2008)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (7) – Meine demenzkranke Mutter wohnt seit fast eineinhalb Jahren mit mir und meinem Mann in unserer Wohnung in Wien, nachdem sie von Berlin nach Wien übersiedelt worden ist, weil die Verwandten die Betreuung nicht mehr leisten wollten. Wir betreuen sie rund um die Uhr, wie das etwa 80 Prozent der Angehörigen von Pflegefällen, insbesondere die Frauen, tun – ein gesellschaftspo­litisches Problem. Die fremde Frau, die ich seit Jahrzehnten nur von Besuchen kenne, ist uns ans Herz gewachsen.

September 2004 – Verlust sozialer Kontakte

Heute geht es Mutti nicht so gut – spitze Nase, schlecht ist ihr, hoher Blutdruck, sie spürt immer so sehr das Wetter. Und wie immer denke ich in solchen Situationen ans Sterben, an ihr Sterben. Wir wollen aufs Land fahren, mal sehen, ob es ihr mittags besser geht. Draußen erholt sie sich immer ganz gut in solchen Situationen.

Diese Arsch-Krankenkasse: Wieder ist aus Deutschland eine Rechnung zurückgekommen, weil sie mit verschiedenen medizinischen Begriffen nichts anfangen können, diese total bekloppten Bürokraten-Idioten. Über 600 Euro Zahnarztkosten, die wir schon im Juli bezahlt haben, sind noch ausständig. Das nennt sich nun EU! Postbeamtenkran­kenkasse – nicht nur, dass sie das Pflegegeld nur auf ein deutsches Konto überweisen, auch die Rechnungen, die wir zuerst auslegen müssen und bei denen einreichen, kommen zur Hälfte wieder zurück und ich kann zum Arzt oder zum Spital latschen, um sie spezifizieren zu lassen. Hab ja nichts anderes zu tun mit einer total verwirrten Mutter, die man einfach nicht allein lassen kann und deren Betreuung teuer ist.

Die Besuche, die wir regelmäßig einladen und bekochen, sind die einzige Möglichkeit, nicht den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren. Denn sonst kommen wir ja von zu Hause kaum weg. Bei diesen Besuchen taucht Mutter oft spätabends aus ihrem Zimmer auf, verlangt ein Gläschen Rotwein und schäkert mit den Gästen: „Du Kleiner dahinten, na komm doch mal rüber…“ Oder: „Du da, wir verstehen uns, nicht?“ Oder: “Ach, schau doch nicht so.“ Dann wirft sie Kusshändchen und alle lachen.

Oktober 2004 – Verlorenheit

Es ist manchmal zum Verzweifeln: Nichts kann Mutter zufrieden machen, sie will am liebsten, dass ich den ganzen Tag neben ihr sitze und ihr ins Ohr schreie. Jetzt haben wir ihr für ihr Zimmer neben der Küche einen Fernseher mit Kopfhöreranschluss gekauft, dass sie ihre deutschen Sendungen hören kann – nein, sie stöhnt und ruft „ach Else, ach Else“, dabei bin ich neben ihr in der Küche und koche das Abendessen. Sie hat so einen vorwurfsvollen Blick, herunterhängende Mundwinkel, das geht heute schon den ganzen Tag so. „Schmeiß mich raus“, sagt sie, dann wieder „wo muss ich denn heute hin?“

Ich puzzle den ganzen Tag um sie herum, es macht mir Angst, dass ich total verblöde. Ich komme gerade mal dazu, die bescheuerten Finanzgeschichten fürs Gericht zu machen. Ich erkläre ihr, dass ich nicht den ganzen Tag usw., dass ihre Unzufriedenheit nervig ist, dass man ihr nichts recht machen könne …, sie schaut mich mit einem sehr entfernten Blick an, „alle schimpfen mit mir“, sagt sie – ach mensch, die Tränen kommen mir, sie kann ja nichts dafür, ich küsse sie auf die Stirn und sie lächelt. O Gott, diese schreckliche Verlorenheit!

Oktober 2004 – Der Gutachter

Aus München kam ein Arzt angereist, der Muttis Zustand begutacht hat, weil ich um eine höhere Pflegestufe angesucht hatte. Sie hat ja die Pflegestufe zwei, und das ist eindeutig zu niedrig für ihren Betreuungsbedarf rund um die Uhr. Der Arzt kam wohl gleich mit seiner ganzen Familie zu einem Österreichausflug angereist, die unten im Auto gewartet hat. Der Herr Doktor war so dick, dass er nur quer in unseren Fahrstuhl gepasst hat. Als er so auf unserem Sofa lag – sitzen konnte er nicht mehr vor Körperfülle -, bat er mich, mit meiner Mutter ein paar Schritte zu gehen. Dann meinte er, vielleicht habe sie einen Schlaganfall gehabt, sie würde hinken. Und dann wollte er alleine mit mir in der Küche reden. Meine Mutter schaute uns nach und sagte zu meinem Mann: „Der arme Mensch kann einem Leid tun, der kann ja kaum gehen.“ So ist das, wenn ein Lahmer einen Blinden beurteilt.

Nachmittags habe ich Mutter einen Brief vorgelesen, den sie Vater ins Kriegsgefange­nenlager bei Hannover geschickt hatte, Datum: November 1945. Da schreibt sie von den Bombenangriffen, ausgebombt, dass alle in ihrem Haus erschossen werden sollten, weil die Russen in einer Wohnung Munition und Waffen gefunden hatten, die Kinder auf ihrem Schoß waren ihre Beschützer, die Russen haben meine Mutter gehen lassen; dass Bärbel scheu zu Fremden ist, kein Wunder, ist doch kein Mann im Haus, schreibt sie, wie selbständig der große Sohn schon sei und wie aufgeschlossen meine Schwester … Und als ich ihr ihren Brief vorlese, nickt sie zu jedem Satz und plötzlich weint sie bitterlich. Sie hat ein Erinnerungsver­mögen, es ist nur zugeschüttet.

Am schlimmsten an solch langen Tagen, an denen Julius ganztags weg ist, ist die Einsamkeit. Mit Mutter allein zuhause, das ist anstrengend und leer. Ihr vorwurfsvolles Gestöhne „ach Else“ und ihr Beschäftigtwer­denwollen, dabei aber ihre absolute Interesselosigkeit, das nervt. Aber sie ist 92 Jahre, was will ich erwarten?

Oktober 2004 – Abgelehnt

Mit der höheren Pflegestufe wird nichts – abgelehnt von der Krankenkasse. Da muss jemand schon total mit einem Bein im Grab sein. Psychische Betreuung wird gar nicht gewertet, nur das Pflegerische: wie oft umdrehen, wie oft füttern, wie oft Hinternauswischen.

Mutti hat die ganze Nacht gegeistert, da sitzt sie dann im Vorzimmer auf dem Sessel und ruft: „Kann mir jemand helfen?“ Das ist so ein paar Mal gegangen, immer wenn sie aufs Klo geht, findet sie nicht zurück ins Bett. Wahrscheinlich ist für sie der Wechsel vom Land in die Stadt und umgekehrt zunehmend verwirrend. Julius hat sie dann wieder ins Bett gebracht. Das sind Momente, wo ich ihn unheimlich lieb habe.

Heute habe ich beim Gericht den Antrittsbericht abgeliefert. Es ist alles wunderbar gelaufen. Die Rechtspflegerin hat meinen Bericht genehmigt und für gut befunden, die durchdachte Betreuung von Mutti gelobt und folgende Vorgehensweise festgelegt: Über Mutters Einkünfte und Ausgaben muss ich keine Rechnung legen, sondern ich kann darüber frei verfügen, die von mir veranschlagten Pauschalen sind genehmigt. Nur größere Ausgaben muss ich mit Rechnung belegen.

November 2004 – Kopf voller Löcher

Wieder in Wien, wieder ein langer „Muttertag“, abends kommt Katja und wir sind eingeladen. Ich lebe wie ein Einsiedlerkrebs, kriege nichts mehr von draußen mit, nur über Radio und Fernsehen oder Julius und Besuch. Mein Hauptbezugspunkt ist Mutter, und das ist ja nicht interessant für andere. Ich kann mir vorstellen wie es ist, als alter Mensch total zu vereinsamen …

Unsere Mutter – vorgestern haben wir sie in ihrem Zimmer morgens am Boden gefunden, Strumpfhosen, Pullover an, aber keine Unterhosen. Sie muss gestürzt sein, hat sich aber nichts wehgetan, die Hüfte schmerzt ein bissl. Zwei Tage lang habe ich ihre Hausschuhe gesucht, sie lagen in ihrem Bett am Fußende unter der Tuchent. Als wir am Montag vom Land nach Hause gekommen sind, hat sie strahlend gesagt: „Also dass ich das noch mal erlebe, dass ich wieder hier zum Sitzen komme.“ Und heute hat sie, aufgeschreckt aus einem kurzen Schlaf in ihrem Sessel, sorgenvoll gefragt: „Haste dir denn auch was zum Essen jemacht?“

Auf die Kinder ist Mutter manchmal eifersüchtig, zu Tatjana hat sie gesagt, „die alte Nebelkrähe“, Katharina schubst sie weg, wenn die ihr ein Busserl geben möchte. „geh weg“, da ist sie unleidlich, wenn sie nicht gut drauf ist. Die Urenkel reagieren toll – „ach Omsch“, sagen sie, „es geht dir heute nicht gut, gell?“ Und dann schmusen sie mit ihr, buhlen darum, wer sie zuerst zum Lachen bringt.

Ihr Kopf hat so viele Löcher – „Halb sechs“, sagte sie gestern, „mensch, da müssen wir ja bald die Sause antreten.“ Und zu den Hausschuhen sagt sie: „Die Pantoffeln von Muttern, die Lüsternen.“ Irgendwie merkt sie doch, wie durcheinander ihr Kopf ist: „Mit mir ist nichts mehr los“, sagt sie, „weg damit. Ich komme mir vor wie ein verlorener Vogel.“