KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Manchmal trifft Omsch ins Schwarze

Von Bärbel Mende-Danneberg (10.2.2008)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (4) – Meine Mutter wird seit einem dreiviertel Jahr von mir und meinem Mann in unsrer Wohnung in Wien und im Häuschen im Waldviertel betreut. Wir haben aber nicht gewusst, wie schwer demenzkrank sie ist. Sie ist von Berlin nach Wien übersiedelt worden, nachdem die Verwandten die Betreuung nicht mehr leisten wollten. Zwischen der fremden Frau, die ich seit Jahrzehnten nur von Besuchen kenne, und allen an der Betreuung Beteiligten entsteht eine Beziehung, die letztendlich auch bereichernd ist.

März 2004 – Das Fotoalbum

Draußen ist es kalt, tiefster Winter mit Schnee. Bald soll es Frühling werden? Mutter ist heute durcheinander, schon in der Früh, als wir noch geschlafen haben, ist sie durch die Wohnung gegeistert und wäre fast umgekippt, als sie mich endlich im Schlafzimmer gefunden hat. Wie ein kleines Kind hat sie voller Angst und mit diesem stumpfen Gesichtsausdruck gesagt: „Ich habe gedacht, ihr habt mich allein gelassen.“ Aber sie hatte sich schon fix und fertig angezogen. Mein Mann Julius war vormittags mit ihr spazieren, Kaffee trinken im Bahnhofsrestaurant. Jetzt sitzt sie im Sessel und bläst Trübsal.

Am Nachmittag hat Mutti wieder bitterlich geweint, als sie das Fotoalbum mit ihrer Familie angeschaut hat. Vor allem ihre Schwester, die kleine Herta, die als Kind an einem Herzfehler gestorben sein soll, machte Mutti traurig. Dann meinte sie, das Foto könne raus aus dem Album. Ich habe sie gefragt, ob sie es an ihrer Wand in einem Bilderrahmen haben möchte. Nun hängt es bei ihrem Bett und Mutti ist sehr zufrieden.

März 2004 – Die Einsamkeit der Pflegenden

Heute ist der gerichtliche Beschluss gekommen, dass ich als einstweilige Sachwalterin für Mutti bis zur endgültigen Entscheidung bestellt bin. Es kommt in den nächsten drei Wochen ein Arzt und stellt Muttis Zustand fest.

Es hat die ganze Nacht unentwegt geschneit. Vormittags war eine Krankenschwester von der Magistratsabteilung-sowieso hier, weil ich überlege, eine Heimhilfe zur Betreuung hinzuzuziehen. Und das geht so: Die Schwester hat alle Daten von Mutti aufgenommen und ich habe einen Pflegevertrag unterschrieben für 16 Stunden im Monat Betreuungsdienste, dienstags und donnerstags von halb neun bis halb elf, eine halbe Stunde Wegzeit muss abgezogen werden. Das kostet monatlich 101,77 Euro, pro Stunde also 6,36 Euro. Berechnet wird das nach Mutters Einkünften: Rente, Witwenpension, Pflegegeld, von den Wohnkosten wird ein Drittel unserer Miete anerkannt, die Heizkosten allerdings nicht. Mal sehen, wie das wird.

Mutti ist heute traurig. Sie meint, alles geht einmal zu Ende und sie würde uns zur Last fallen, sie wüsste auch nicht, wo sie hin soll. „Irgendwann muss ich ja wieder nach Hause gehen“, sagt sie, „aber ich weiß gar nicht, was ich mein Zuhause nennen soll.“ Ich habe sie in die Arme genommen und beruhigt. „Ich danke dir, die anderen zu Hause haben alle so ihre Machenschaften“, sagt sie.

Worüber ich bisher noch kein Wort verloren habe: die relative Einsamkeit tagsüber. Früher war ich unterwegs, ständig läutete das Telefon. Nun merke ich, wie schnell man unwichtig ist, wenn man nichts zu vergeben hat, etwas Artikelaufträge oder so. Das Telefon läutet wenig, wenn, dann rufen meist die Kinder an. Das relativiert für mich meine vergangene Wichtigkeit. Ist das jetzt die Vorstufe zur Alterseinsamkeit? Wenn wir etwa Besuch haben, muss ich aufpassen, dass ich nicht zuviel von meinem neuen Lebensmittelpunkt, der Mutterbetreuung, quatsche, das muss allen ziemlich auf die Nerven gehen.

März 2004 – Unser kleiner Prinz

Unser Elschen. Heute Morgen hat Mutter schon um kurz nach acht Uhr, wir haben länger geschlafen, im Vorzimmer auf dem schwarzen Sessel gesessen, ihr Bett war wie beim Militär ordentlich gerichtet, sie war angezogen, was sie halt so gefunden hat: zwei Strumpfhosen übereinander, kein Unterhemd, aber eine Weste. Ganz verloren wie ein Flüchtlingskind ist sie dagesessen, „ach Gott sei dank, dass du da bist“, meinte sie.

Ach Omsch, so nennen die Urenkel sie, mit denen sie lustig umgeht und sie auch mit ihr, gegenseitiges Fratzenschneiden, Zunge rausstrecken, Augen verdrehen, ganz eifersüchtig wird Frau Omsch, wenn ich mich mehr mit ihren Urenkeln mehr beschäftige als mit ihr. „Weg“, sagt sie dann und macht eine wegwerfende Handbewegung zu den Kindern, „hau ab.“ Sie sagt manchmal so treffende Sachen. Zum Beispiel vorgestern, da hat sie sich beklagt, dass sie nur rumsitzt, abgestellt ist. Ich sage, lass dir doch was einfallen, dass es nicht so fad ist. Sie sagt vorwurfsvoll: „Lass dir mal was einfallen – ja was denn, wenn du keinen Kopf mehr hast.“ Stimmt. Neulich sagte sie zu dem kleinen Igel, den sie sich beim Einkaufen ausgesucht hat: „Der kommt mit nach Berlin Wasser saufen.“

Unser kleiner Prinz – die Bezeichnung hat Julius geprägt, wenn sie morgens mit abstehendem Nachthemd und ausgestreckten Armen, halb blind, schwankend und verloren lächelnd aus ihrem Zimmer kommt und von ihrem Schwiegersohn Küsschen einfordert.

Heute Bade- und Pflegetag. Duschen, eincremen, Nägel schneiden. Noch immer bin ich entsetzt darüber, wie Muttis Zehennägel so vernachlässigt werden konnten. Nach einem dreiviertel Jahr sind noch immer Spuren der eingewachsenen Nägel da, sie hat zu kleine Schuhe getragen und vor allem die Nägel der zweiten und dritten Zehe sind derart mit der Haut verwachsen, dass es schwer ist, sie zu schneiden. So langsam wächst das alles heraus, mühsam. Was wurde denn bloß für eine Körperpflege mit Mutti gemacht? Hat das denn niemand gesehen?

Meine Schwester hat angerufen, sie, ihr Mann und mein kleiner Bruder und seine Frau werden uns im Sommer ablösen bei der Betreuung, sodass wir vier Urlaub machen können.

Mein großer Bruder aus Berlin hat nach Wochen des Schweigens angerufen. Er wollte Mutter sprechen. Sie hat ihm geklagt, dass sie unzufrieden ist, es ihr nicht gut geht und dass es Zeit wird, dass sie nach Hause kommt. „Wie geht’s denn so zu Hause? Alles gesund? Was macht dein Frauchen?“ Meine beantragte Sachwalterschaft empfindet mein großer Bruder als Verrat.

März 2004 – Einkaufen

Schönstes Frühlingswetter, in den Medien nach den Anschlägen in Madrid unentwegt Terrormeldungen und -warnungen, Überwachungska­meras, Polizeistaat, Ruf nach Führer und Ordnung, was sollen nur unsere Kinder und Enkel von dieser Welt denken?

Vielleicht gehe ich mit Mutter heute Schuhe kaufen, die sie mitgebracht hat, sind unbrauchbar und zu klein, siehe Zehennägel. Heute ist wieder Bade- und Haarwaschtag, gestern Abend war sie ganz ausgelassen und albern. „Ich habe einen Lititi“, hat sie gesagt und gemeint: „Das habe ich immer bei Tante Mariechen gesagt: Lititi.“ Dann hat sie gemeint, sie wisse nicht, wie sie das alles hier bezahlen soll, sie habe doch gar kein Geld. Und ich habe ihr gesagt, dass sie alles selbst bezahlt, dass ihr Sohn mir ihre Rente schickt. Da hat sie wie schon so oft mit dieser typischen Handbewegung hinter den Rücken gesagt: „Macht er das wirklich oder räumt er auf die Seite?“ Was soll ich davon halten?

Ein schöner, langer Spaziergang mit Mutti, zuerst ins Schuhgeschäft und zurück durch den blühenden Botanischen Garten. Die Natur explodiert förmlich nach diesem langen Winter, die Wiesen sind bunt von Krokussen und Schneeglöckchen. Mutti hat zwei Paar neue Schuhe bekommen, sie freut sich wie ein kleines Kind und streichelt sie immer wieder – „womit habe ich das verdient“ -, ich sage, die hätte sie doch von ihrem eigenen Geld bezahlt. Trotzdem, sagt sie, ich kann euch gar nicht genug danken.

März 2004 – Keine Spur Erinnerung

Unsere Frau Omsch, wie Julius immer liebevoll zu Mutter sagt: Sitzt heute früh, nachdem wir zuvor zu nachtschlafener Zeit geschaut hatten, ob sie brav im Bett liegt, im Vorzimmer auf dem Sessel, zittert, angstvoll aufgerissene Augen – sie sei alleingelassen worden. Sie wüsste nicht, was los sei. Keine Spur Erinnerung an das Wochenende. Da war Julius mit ihr auf einer langen Spazierfahrt unterwegs, dann im Sonnenschein auf einem Terrassencafe Süßes essen. Am Samstag war sie wieder mit uns in der Sauna und hat es genossen. Zum Julius hat sie gesagt: „Der Prediger …“, und später zu sich: „Ach Else, was bist du für ein steiniger Wurm.“ Natürlich hat sie nachmittags wieder nicht gewusst, wo sie schlafen soll: „Da jault man dann wie so’n kleiner Hund von der Straße – wo schlafe ich“, hat sie gelacht.