KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Mann ist Mann

Von Bärbel Mende-Danneberg (10.3.2008)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (5) – Meine demenzkranke Mutter wohnt mit mir und meinem Mann in unserer Wohnung in Wien. Wir betreuen sie rund um die Uhr. Sie ist von Berlin nach Wien übersiedelt worden, nachdem die Verwandten die Betreuung nicht mehr leisten wollten. 80 Prozent der Pflegefälle werden von ihren Angehörigen zu Hause betreut. Zwischen der fremden Frau, die ich seit Jahrzehnten nur von Besuchen kenne, und allen an der Betreuung Beteiligten entsteht eine Beziehung, die letztlich auch bereichernd ist.

März 2004 – Das nervt, dieses Bitten

Heute war wieder die Heimhilfe, die eigentlich Besuchsdienst heißt, für zwei Stunden da. Es verkehrt sich ins Gegenteil: Man MUSS fortgehen, selbst bei dem größten Sauwetter, Regen, kalter Wind, Temperaturen um die Nullgrad. Mein Mann und ich waren einkaufen, ein „Freizeiterlebnis“, und dann haben wir die Heimhilfe einfach früher wieder weggeschickt. Wenn es wärmer und schöner ist, könnten wir ja in den zwei Stunden Rad fahren oder schwimmen gehen. Aber so – wir sind gezwungen, uns etwas einfallen zu lassen. Die Lust, faul auf einem Sofa zu liegen, weil einem einfach danach ist, fällt einem fixen Stundenplan zum Opfer.

Es ist auch schwierig, so ad hoc wen zu finden, wenn wir einmal abends weggehen wollen, obwohl wir bzw. Mutti ja gut zahlen – zehn Euro die Stunde. Am Sonntag zum Beispiel, als wir zur Literatur-im-März-Veranstaltung gehen wollten, war niemand erreichbar, der eingesprungen wäre, es ist ein ewiges Buhlen und Bitten. Morgen ist es ähnlich: Ich habe Behandlung im AKH, Julius hat Unterricht, alle anderen, die in Frage kämen, können nicht. Das nervt, dieses Bitten.

Gestern Abend hat Mutti wieder ihre komischen Witze gemacht. Sie hat mit Julius geschäkert – „nicht wahr, mein Bester, mein Lieber, kommst du mit in mein Bett?“ Aber Mutti, sage ich, das ist doch mein Mann, mach mir keinen Ärger. „Was, dein Mann?“ ruft sie und sagt: „Egal, Mann ist Mann.“

„Wo schlafe ich denn heute“ – jeden Nachmittag das gleiche, Tränen, Traurigkeit, Ratlosigkeit, Angst. „Ich glaube, es wird Zeit, nach Hause zu gehen“ – aber Mutti, sage ich, du bist doch hier zu Hause, schon fast ein Jahr … „Aber irgendwann muss ich ja doch weg“, sagt sie. Sie vergisst es jeden Tag neu. Die Furcht, allein gelassen zu sein, ist tief und unauslöschbar. Wenn ich sie in die Arme nehme und ihr versichere, dass sie nicht weg muss, kommt ein Stoßseufzer und ein „Gott sei Dank“.

Eben haben wir Fotos angeschaut. Zu meinem Foto sagt sie, das ist auch so eine Frau, die fürs Essen zuständig ist. Und dann, als ich die Stirn runzele, mit verschmitztem Lächeln: „Meine Schwiegermutter“; und zu meinem kleinen Bruder auf dem Foto sagt sie, das sei Helene, „Joachim???“ fragt sie verwundert, „aber warum hat der denn Mädchenkleider an“. Zu dem Foto, wo mein großer Bruder Peter als Jugendlicher drauf ist, sagt sie, „das ist auch irgend so einer aus der Verwandtschaft von früher“. Dann: „Mein Sohn Peter?“ und Achselzucken.

März – Alles falsch

Heute war ich beim Neurologen wegen der Sachwalterschaft. Er hat Mutter genau befragt – sie hat leider fast keine Antwort gewusst: Wie viele Kinder? – keine Ahnung … Wer ist das? – Meine Tochter … Wie heißt sie? – Bärbel. Das war die einzige Frage, die sie gewusst hat. In welcher Stadt sie lebt – „ich denke Berlin“, was ein Euro ist – „vielleicht ein Liter“, was sie Rente bekommt – „ich vergesse alles“… Sie hat mir so Leid getan, aber so ist es. Er hat noch gefragt, was bei ihr alles gemacht werden muss – waschen, anziehen usw.

April – „Nicht mehr ganz öffentlich“

„Sag einmal, wie komm ich denn eigentlich nach Hause?“ – immer wieder die gleiche Frage. „Du bist bei uns zu Hause, Mutti, mach dir keine Sorgen“ usw. Jeden Tag ihre Sorge, dass sie nach Hause kommen muss oder will. Gestern kam mir der Gedanke, dass sie damit vielleicht das Sterben meint? Heute haben wir einen langen Spaziergang gemacht – zum Arzt in Wien, zur Apotheke, sie ist gut zu Fuß. Nur das Hirn macht schlapp.

Heute kam das Gutachten des Neurologen über Mutters Gesundheitszustand. Irgendwie vernichtend – sie ist hochgradig unzurechnungsfähig und kann ihre Sachen nicht mehr eigenverantwortlich regeln, stellt der Gutachter fest. Ich werde den Bescheid allen Geschwistern zuschicken, für meinen großen Bruder vielleicht die Antwort auf seine Frage, ob es wirklich nötig war, „Mutter entmündigen zu lassen“.

Julius war mit Mutter Topfenstrudel essen – und ist mit ihren Zähnen in der Serviette zurückgekommen, denn die sind im Strudel stecken geblieben. Neulich sagte sie zu Julius, als wir irgendwie von ihrem Mann Hans gesprochen hatten: „Das ist mein Mann, der mich begriffen hat.“ Schön, diese doppelte Wortbedeutung. Sie sagt überhaupt sehr witzige Sachen, zum Beispiel heute, als sie ihre Vergesslichkeit thematisiert: „Ich bin nicht mehr ganz öffentlich.“

Am schwersten ist es für mich, Mutters geistige Abwesenheit oder ihre Ver-rücktheit von der Realität zu ertragen. Gestern war wieder so ein Nachmittag – immer wieder die Frage, wann sie nach Hause gehen soll, wie sie es anstellen soll, wegzukommen, wo sie schlafen soll … Frage ich sie, wo denn ihr zu Hause sei, sagt sie: Zehlendorf. Oder: Bei Muttern. Oder: Bei Tante Mariechen. Dann klagt sie, dass die Kinder sich nicht kümmern würden – kein Erinnern. Und Bärbel? frage ich. „Ach, die kümmert sich auch nicht, die ist immer unterwegs“, sagt sie und schaut mich treuherzig an. Ich bin die Bärbel, sage ich. „Ach Mädchen, sagt sie, sei nicht böse, ich vergesse eben alles.“ Dann fragt sie nach ihrer Schwester Leni. Ach Mutti, sage ich, die ist ja schon an die 15 Jahre tot. Da weiten sich ihre Augen schreckerfüllt und Tränen kommen: „Aber wieso hat mir das denn keiner gesagt?“ Und dann beginnt es wieder von vorne: „Wo schlafe ich denn heute?“ Ihre Synapsen spielen verrückt. Doch meist gelingt es Julius, sie wieder zum Lachen zu bringen. Dein Kopf hat ein Loch, sagt er. „Else ist eben ein Dusseltier“, sagt sie dann.

April – Fremde Tochter

Unsere Frau Omsch: Heute hat Julius einen Sonnenschirm für den Balkon gekauft, damit Mutti länger Schatten hat, wenn es heiß ist. Sie saß auf dem Balkon und wir haben ihn befestigt, da war sie auf einmal stinkbeleidigt. Sie bekommt dann so ein eingefrorenes Gesicht, hängende Mundwinkel und einen engen Blick. „Was ist denn los? Sollen wir den Schirm wieder weggeben?“ – Schulterzucken und dann sagt sie sehr bestimmt: „Ja! Ich habe ihn ja nicht bestellt.“ Also haben wir den Schirm wieder abgespannt. Julius meint, sie war beleidigt, weil er sie nicht gebührend mit Küsschen beim Nachhausekommen begrüßt hat.

Später in ihrem Zimmer: „Wird Zeit, dass sie mich rausschmeißen“, sagt Mutti. Wer denn, frage ich. „Na die, die mich hier festhalten“, sagt sie. Dann: „Die Kinder können nur meckern“, sagt sie. Welche Kinder, frage ich, deine? „Ich hab doch keine Kinder“, sagt sie. Aber Mutti, sage ich, ich bin doch Dein Kind. – „Nee, das könnte dir so passen“, lacht sie, „willst du mich wieder auspfeifen, wo bist du denn geboren“ – Im Rittbergkranken­haus, sage ich. – „Nee“, sagt sie, „du bist meine Mutter, du musst für mich sorgen.“ Sage ich: Mach ich ja, aber du bist 92, wenn ich deine Mutter wäre, müsste ich ja schon 130 Jahre alt sein. Da lacht sie ganz herzhaft und sagt: „Na, das geht nun auch wieder nicht.“

April – Angst

Am Wochenende waren wir wieder am Land, Studentenseminar. Mutti war in der ersten Nacht ganz durcheinander, immer wieder ist sie an meinem Bett gestanden und wir haben kaum ein Auge zugemacht. Ich habe sie in die Arme genommen und gefragt, was los ist. Und sie hat ganz klar und nachdrücklich gesagt: „Ich habe Angst.“ Dann hat sie so komische Sachen gesagt am nächsten Tag: „Irgendwie muss ich ja doch ins Leichenloch rinkrabbeln.“ Nach ihrer großen Schwester hat sie gefragt, ob die noch lebt, Mariechen, ihre Tante, die schreibt auch nicht. Dann hat sie geweint. Und später: „Es hat alles keinen Zweck, also saufen wir einen.“ Also habe ich ihr ein Gläschen eingeschenkt. „Ich sehe dich und den Chef als die einzigen, die man kennt“, hat sie gemeint, „ich komme ja nicht so leicht zur Freundschaft, ich bin zickig.“