KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Mein Vorwurf, mein Nachwurf. Meine Tochter?

Von Bärbel Mende-Danneberg (10.1.2008)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (3) – Meine Mutter wird nun schon seit einem dreiviertel Jahr von mir und meinem Mann betreut. Wir haben nicht wirklich gewusst, worauf wir uns da einlassen. Mutter ist von Berlin nach Wien übersiedelt, und niemand hatte uns gesagt, wie schwer demenzkrank sie ist. Nun lebt die fremde Frau, die ich seit Jahrzehnten nur von Besuchen kenne, in unserer Wohnung in Wien und an den Wochenenden in unserem Häuschen im Waldviertel. Langsam entsteht eine Beziehung zwischen allen an der Pflege Beteiligten.

Februar 2004

Das Zusammenleben mit der alten, fremden Frau belastet unsere Beziehung sehr. Mein Mann hat vorgeschlagen, mehr Abstand zur Mutter zu organisieren, Vorwürfe, er würde an meinem Gängelband hängen, mein Umtutteln mit der Mutter sei lächerlich, ich würde in sie hineinkriechen wie in die Kinder… Ungute Streits über Kleinigkeiten. Unsere Nerven liegen blank. Ich bin gereizt. Er ist gereizt. Es entsteht eine Fremdheit zwischen uns, die wir nur überbrücken, indem wir miteinander reden und uns dieser neuen Situation bewusst werden: Es ist für uns eine totale Umstellung, das Leben und den Alltag mit einer alten, verwirrten Frau zu teilen. Noch vor kurzem war ich als Journalistin voll aktiv im Berufsleben, und nun bin ich als Pensionistin und Pflegekraft ans Haus gefesselt mit meiner Mutter, die mir fremd ist.

Ich fühle mich sehr, sehr allein.

Heute war ich mit Mutti am Gericht. Ich habe die Sachwalterschaft beantragt. Ich habe das mit den Geschwistern abgesprochen, sie sind einverstanden. Nur mein älterer Bruder ist dagegen. Er und seine Frau haben unsere bis dahin in ihrer kleinen Berliner Wohnung allein lebende Mutter betreut und sie dann kurzerhand zu uns nach Wien verfrachtet, als die Pflege wohl mühsamer wurde und ich in Pension gegangen bin. Sie hatten Mutter versprochen, dass sie niemals in ein Heim kommt. Nun lösen mein Mann und ich dieses Versprechen ein. Aber wir sind nicht allein: 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden daheim von ihren Familienangehörigen betreut. Vorwiegend Frauen widmen sich dieser Aufgabe, was auf ein gesellschaftspo­litisches und geschlechtsspe­zifisches Missverhältnis hinweist.

Die Sachwalterschaft halten wir für sinnvoll, schließlich erinnern wir uns an die Komplikationen, als Mutter nach ihrem Sturz im Sommer ins Krankenhaus musste und sie ihre Unterschrift wegen der Narkose nicht leisten konnte. Schon damals war ich ratlos, was ich tun soll, wenn wichtige Dinge für sie entschieden werden müssen, sie aber absolut entscheidungsun­fähig ist. Es ist auch nicht sinnvoll, dass mein ältester Bruder darauf besteht, weiterhin Mutters Kontobevollmächtig­ter in Berlin zu bleiben, während Mutter hier in Wien lebt. Er schickt zwar einen Großteil ihrer Rentenbezüge hierher, aber er entscheidet und verwaltet alles, und ich bin somit in der Bittstellerpo­sition. Außerdem interessiert es ihn überhaupt nicht, wie es seiner Mutter und wie es uns mit Mutter geht. Er ruft kaum einmal an, sondern macht Weltreisen.

Das Procedere der Sachwalterschaft ist folgendes: Die Richterin bestellt einen Sachverständigen, der sich Mutter in der Wohnung anschaut, ich werde vor Gericht geladen und befragt, und dann wird entschieden, ob ich geeignet bin, Sachwalterin meiner Mutter zu werden. Das dauert so an die drei Monate. Dann kann ich all die anderen Formalitäten erledigen – Bankkonto in Österreich für sie einrichten, Pensionsversiche­rungs- und Krankenkassen­zahlungen regeln, die Kontovollmacht meines Bruders auflösen usw.

Ende Februar 2004

Diesen Tag gibt es nur alle vier Jahre, der 29. Februar. Heute ist Mutter genau acht Monate bei uns. Unser Tagesprogramm: baden, Haare waschen, Nägel schneiden, einölen, das genießt sie und nun liegt sie im Sessel und schläft. Draußen schneit es ununterbrochen, keine Spur von Frühling.

Am Samstag waren wir am Land und haben Mutter mit in die Sauna genommen. Zuerst hatte ich Angst, dass die alte Frau das nicht aushält, aber mein Mann meinte, probieren wir es doch einfach. Und es war ein Erlebnis, wie Mutter nackt und wohlig in der Wärme gesessen ist, „da müsst ihr mich öfter mitnehmen“, hat sie gesagt. Dann hat sie ihre Busen gelupft, die Arme ausgebreitet und nach der warmen Luft gegriffen. Schließlich hat sie sich umgedreht und den nackten Julius beäugt – „so was sieht man ja nicht alle Tage“, sagte sie. Zum Aufguss ist sie aber nicht drin geblieben, nur etwa zwei Minuten oder so. Es hat ihr nicht geschadet, sie war ganz fröhlich und ausgelassen und hat rote Bäckchen bekommen.

März 2004

Internationaler Frauentag. Das politische Datum ist in den Medien, wenn überhaupt, abgeschoben in den hinteren Kulturteil. Vor genau 20 Jahren haben Julius und ich uns lieben gelernt. Damals habe ich nicht ahnen können, wie unser Altersalltag ausschauen wird. Damals war es schon fast Frühling, aber dann ist noch einmal Kälte gekommen, da haben wir uns im 9. Bezirk im Park wie Teenager herumgedrückt und uns in den zugigen Hauseingängen geküsst.

Heute ist tiefster Winter. Es schneit und schneit, am Land hatte es am Wochenende minus zehn Grad. Eigentlich sollten die Krokusse blühen. Alles ist tief weiß draußen. Mutter schläft noch, halb zehn ist es, sie hat aber schon um halb acht mit uns gefrühstückt, schwindelig ist ihr, also wieder ab ins Bett.

Neulich habe ich geschrieben, was ich so alles mache mit Mutti – Körperpflege, Haare waschen, Nägel schneiden, Vorlesen, jeden Tag frisches Essen kochen, sie braucht keine Abführmittel mehr, Wäsche waschen und Nüsse knacken, wie eben gerade usw. Malen auch, aber das war ja Julius Idee. Und deshalb will ich mal aufschreiben, was mein lieber Mann so alles macht mit seiner Schwiegermutter. Also erst mal geht oder fährt er fast jeden Tag mit ihr spazieren, damit ich etwas Abstand zu ihr habe. Am Wochenende z.B. war er mit ihr im Waldviertel Mohnnudeln essen. Sonst geht er in den Schweitzergarten Torte oder ins Bahnhofsrestaurant Topfenstrudel essen, oder er fährt mit ihr in den Wienerwald. Und das fast jeden Tag! Für mich ist das eine ganz, ganz große Hilfe.

Am lustigsten aber sind die anderen Sachen, die er vorschlägt: Zum Beispiel das Saunagehen oder Fahrradfahren auf dem Heimtrainer, das Julius für sie entdeckt hat. Da trampelt sie in die Pedale und haut (sich) ab, „egal, wohin, Hauptsache weg“, sagt sie. Gestern hat Julius Mutter die Haare geschnitten, ein feiner, kurzer Schnitt, sie sieht aus wie eine alte Schriftstellerin.

„Ach Else“, klagt sie jetzt wieder in ihrem Sessel. Was ist denn, frage ich. „Dass man so allein ist“, sagt sie. Bist du doch nicht, meine ich zu ihr. „Na ja, die Kinder schwirren davon und Mutter soll sehen, wo sie bleibt“, erwidert sie, „dann scheißt man sich in die Hosen.“ Aber ich bin doch dein Kind und bin hier, sage ich. „Ach, du bist mein Vorwurf“, lacht sie, „nein, mein Nachwurf“, lacht sie noch mehr, dann: „Meine Tochter? Warum sagen Sie mir das erst jetzt?“ Sie hat die komischsten Wortkombinationen. Und jetzt wirft sie mir Kusshändchen zu und sagt „danke“.

Eben waren wir einkaufen – das ist auch etwas, das Julius im Sommer eingeführt hat: „Nehmen wir sie doch mit, sie hat sicher seit Jahren kein Kaufhaus von innen gesehen“, meinte er. Ich habe ihr heute als Vor-Ostergruß einen kleinen Igel aus Ton gekauft. Den hält sie nun wie ein kleines Kind in der Hand, streichelt ihn und lächelt selig. Und so ist das flüchtige Leben der Else: Eine Minute später weiß sie schon nicht mehr, dass ich ihr den Igel geschenkt habe. „Der ist von der, die immer da ist“, sagt sie zu mir. Was ja irgendwie stimmt.

Vielleicht gehe ich heute noch auf die Frauentags-Demo.