KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Rund um die Uhr

Von Bärbel Mende-Danneberg (5.5.2008)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (8) – Meiner demenzkranken 92-jährigen Mutter geht es zunehmend schlechter. Sie wohnt mit mir und meinem Mann in unserer Wohnung in Wien, nachdem sie von Berlin nach Wien übersiedelt worden ist, weil die Verwandten die Betreuung nicht mehr leisten wollten. Wir betreuen sie rund um die Uhr, wie das etwa 80 Prozent der Angehörigen von Pflegefällen, insbesondere die Frauen, tun – ein gesellschaftspo­litisches Problem. Jeden Tag die bange Frage: Zeit, zu gehen?

November 2004

Heute habe ich mit Mutti herumgealbert, Fangspiele mit den Fingern, und plötzlich hat sie einen unglaublichen Redefluss entwickelt, ein Kauderwelsch, aber sie sah ganz glücklich aus und hat meine Hand gestreichelt.

Im Sommer war Mutter zweimal wöchentlich in der Tagesbetreuung im Altersheim Horn. Das war nicht optimal, sie wollte immerfort weg dort, wie ein gefangenes Tier ist sie hin- und hergewandert, sie haben dort keine wirkliche Demenzgruppe, sondern senile Alte nicken in ihren Rollstühlen vor sich hin. Dagegen ist die Tagesbetreuung der Caritas in Wien, in welche Mutter schon seit einiger Zeit geht, wirklich hilfreich. Sie holen morgens Mutter ab und bringen sie am Nachmittag wieder. Mutter geht gerne in ihren „Kindergarten“, wie wir sagen. Diese Erleichterung habe ich meiner Tochter Anja zu verdanken, die kurzerhand ein Gespräch mit dem Leiter arrangiert hat.

Provokante Therapie

Julius nennt es „provokative Therapie“. Nachmittags ist Mutter immer ungehalten, unwirsch, rennt wie eine Diesellok in der Wohnung hin und her. Dann nimmt Julius ihren Stock und kitzelt sie am Hals, „na du alte Schabracke, was ist los“, und sie wird fuchsteufelswild. „Lass das,“ sagt sie, „geh weg“, „hau ab“, und dann fallen ihr alle möglichen erfundenen Schimpfworte ein, „du Arschloch“, kommt plötzlich klar formuliert. Sie fletscht die Zähne, „ich hau dir eine runter“, „komm du mir mal nach Hause“, und Julius stichelt sie, setzt die Brille ab, „na, hau doch hin, traust dich nicht“, und sie: „du wirst dich wundern.“ So geht das eine ganze Weile zwischen den beiden, sie schwingt den Stock, „pass ja auf“, sagt sie, dann lässt sie ihren Krückstock los und sagt: „Schieb ihn dir doch in den Arsch!“ Und er heult „au, au, au, du tust mir weh.“ Und dann plötzlich fängt sie herzlich an zu lachen, so als ob sich irgendwas innerlich löst und sie fängt an zu flirten mit ihm, „ja, mein Kleiner“ usw. Und dann redet sie auch ziemlich klar.

Gestern hat Mutti das Klo voll gekackt. Sie schafft es zunehmend weniger, sich selbst abzuwischen. Heute Nacht hat sie um halb drei mit nassem Nachthemd und vollgepinkelter Unterhose im Vorzimmer auf dem Sessel gesessen. Das passiert jetzt immer öfter, dass sie nachts mit nassen Sachen dort rum sitzt wie ein Flüchtlingskind und ich sie umziehen und alles aufwischen muss. Wir schauen mehrmals nachts, ob sie im Bett ist, mal Julius, mal ich, manchmal jeder drei- bis viermal. Sie kann nichts dafür, ihr ist das peinlich und sie schämt sich. Ich nehme sie in die Arme und tröste sie, und sie ist jedes Mal so dankbar, wenn sie trocken wieder im warmen Bett liegt.

Wir schauen oftmals, ob sie noch lebt. Ob sie noch atmet. Wenn sie so mit offenem Mund daliegt, überkommt mich ein Schauer.

Mutter geistert

Mutter geistert, der helle Mond nachts und das windige Wetter tags machen ihr zu schaffen. Ihr ist schlecht, sie zittert, und jedes Mal denke ich, ob es wohl dem Ende zugeht. Sie hat dann immer einen ganz verlorenen Blick, sitzt auf dem Stuhl und zuckt die Achseln, wenn ich sie frage, wo sie denn hinwollte. „Nach Hause“, sagt sie und ich weiß nicht, ob das eine Metapher fürs Sterben ist. Sie ist sehr tapfer, aber dennoch geht es mir manchmal ziemlich auf die Nerven, wenn sie so unwirsch ist: „Ich sitze hier nur rum, irgendwer hat mich hier abgesetzt, ich weiß nicht, was ich machen soll“ usw., obwohl ich mich den ganzen Tag um sie kümmere. Sie kann nichts dafür, sie tut mir Leid und sie hängt sich sehr an mich.

Nichts als Ärger mit der Bürokratie, die Krankenkasse zahlt noch immer nicht die Zahnarztrechnung vom Juni, die liegt nun wieder beim Zahnarzt zur Neuausstellung. Telefonat mit dem Payroll Düsseldorf, Mutters Versorgungsbezüge der Telekom, die haben für November noch nichts überwiesen. Das wird händisch von Bonn aus gemacht, sagte mir der nette Herr, er wird sich drum kümmern. Wenn ich mich nicht drum kümmere – einer alten Frau fällt vielleicht gar nicht auf, dass ihre Rente noch nicht da ist.

Sie kann böse werden

Nach dem schönen Wochenende am Land, wo Mutter erstaunlich friedlich und zufrieden war und auch nachts gut geschlafen hat, ist sie heute ab mittags unleidlich gewesen. Ich hatte ihr das Hörgerät aufgesetzt, um nach dem Spaziergang, der sie sehr angestrengt hatte, ein wenig mit ihr zu plaudern, und wieder fing sie alle fünf Minuten an: „Ich weiß nicht, wann ich nach Hause muss.“ Dann hat sie über ihre Kinder geschimpft – niemand kümmere sich um sie, die machen ja sowieso alle, was sie wollen, ganz ungnädig war sie. Als ich ihr sagte, dass sich alle Kinder um sie kümmern – „und bin ich schließlich nicht dein Kind?“ – meinte sie ganz böse: „Und weshalb sind sie dann nicht hier?“

Und dann ist sie ganz bös geworden, hat die Kekse, die ich ihr hingestellt habe, energisch über die Tischplatte weg geschoben, ich habe sie wieder hingeschoben, sie wieder weg usw., das ging eine ganze Zeit so, und sie hat ganz düster vor sich hingestarrt. Warum sie böse ist, wollte ich wissen. „Muss ich dir alles sagen?“ Weshalb sie so ungnädig ist, ihre Kinder würden doch kommen und auch immer wieder anrufen – „davon merke ich nichts“, sagte sie ganz bissig. Und warum bist du dann wirklich böse, frage ich. „Weil du so sprichst.“

3 Tage „Kindergarten“

Seit 14 Tagen ist Mutter auch mittwochs in der Tagesbetreuung. Das ist eine Erleichterung, drei Tage in der Woche etwas Freiraum! Sie geht gerne hin in ihren „Kindergarten“ und kommt ebenso gerne wieder zurück. „So ein Zufall, dass wir uns noch einmal sehen, woher weißt du denn, dass ich hier bin“, sagt sie oft, wenn sie nachmittags wieder gebracht wird. Neulich beim „Elternabend“ habe ich den Heimleiter gefragt, was sie denn den ganzen Tag machen mit den Alten, sie würde immer so aufgeräumt heimkommen. Sagt er: „Kann ich schon sagen, was wir machen. Gestern z.B. Kegeln, das hat ihr Spaß gemacht, da nimmt Ihre Mutter plötzlich ihre Zähne aus dem Mund und schießt sie auf die Kegelbahn.“ Was tun sie sonst noch? Gemüse putzen und kochen, Gedächtnistraining, Töpfern, Rhythmik, Musik, Spazieren gehen. Es scheint ihr alles zu taugen und sie ist jedes Mal ganz ausgeglichen, wenn sie zurückkommt.

Neulich hat Mutter zu Julius gesagt: „Du alter Ladentisch.“ Und als er draußen die Beete umgegraben hat: „Na, der Chef, der schuftet ganz schön.“ Und zu der Schnur, die Julius in der Hand hält: „Guck mal, der hat ein Mikomor.“ Als ich sie abends ins Bett gebracht habe, hat sie mich spontan umarmt und geküsst und hat gesagt: „Ich bin ja so froh, dass ich euch habe.“

Jetzt liegt sie blass und klein und zerbrechlich im Bett und schläft mit offenem Mund. Manchmal denke ich, es ist das Ende, wenn sie so daliegt.

Das Heimatlose

Heute früh ist Mutti splitternackt im Flur gestanden, eine Pinkelspur durch Küche und Klo. Die arme, hoffentlich hat sie sich nicht verkühlt. Aus dem „Kindergarten“ zurück, war sie guter Laune. Die Kürbissuppe hat ihr geschmeckt. Es ist rührend, wenn sie einen mit so großen treuherzigen Augen anschaut, sich auf die Brust klopft und sagt, „das schmeckt aber gut“, so als müsse sie einen davon überzeugen.

„Entschuldige, dass ich dich so umherjage, ich will ja nicht lästig sein“, meinte sie, nachdem sie wieder den ganzen Nachmittag nach Hause und „weg, weg“ wollte. „Das macht nichts“, sagte ich, „nur dein Jammern, dass du jeden Tag wegwillst, ist lästig.“ Und sie sagt darauf mit verlorenem Gesicht: „Das ist doch bei mir das Heimatlose.“

Da könnte ich heulen, so sehr verstehe ich, was sie sagen will. Ich nehme sie in die Arme und tröste sie. „Ich bin ja auch so starr in allem“, meinte sie, „Angst, es auszumosern.“

Ein Nachtrag

Ein Monat später: Mein Vorhaben, meine Mutter bis zum Schluss zu betreuen, habe ich nicht einlösen können. Ihr ging es in den letzten Wochen so schlecht, dass ich mich außerstande sah, die Pflege weiter zu leisten. Schweren Herzens haben wir sie in ein Caritas-Pflegeheim gegeben. Dort wird sie gut betreut. Ich bin traurig, dass meine fremde Mutter, die mir so nah gekommen ist in den vergangenen vier Pflegejahren, nun die letzte Strecke ihres Lebens alleine gehen muss, auch wenn wir sie fast täglich besuchen.