KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Zwischen Angst und Schabernack

Von Bärbel Mende-Danneberg (10.4.2008)

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (6) – Meine demenzkranke Mutter wohnt seit fast einem Jahr mit mir und meinem Mann in unserer Wohnung in Wien, nachdem sie von Berlin nach Wien übersiedelt worden ist, weil die Verwandten die Betreuung nicht mehr leisten wollten. Wir betreuen sie rund um die Uhr, wie das etwa 80 Prozent der Angehörigen von Pflegefällen, insbesondere die Frauen, tun – ein gesellschaftspo­litisches Problem. Die fremde Frau, die ich seit Jahrzehnten nur von Besuchen kenne, wird uns immer vertrauter.

Mai 2004 – Sieben mutterlose Tage

Mein kleiner Bruder Joachim und seine Frau sind vergangenen Sonntag gekommen und betreuen Mutter. Sieben mutterlose Tag, wir haben uns aufs Land verzogen. Das war erholsam und sie haben das auch gut gepackt.

Am 1. Mai haben wir uns – nach 30 Jahren – das erste Mal den Maiaufmarsch geschenkt und sind mit Mutter aufs Land gefahren. Irgendwie haben wir nicht gewusst, ob es dort auf der Ringstraße in Wien Bänke zum Niedersetzen gibt und wo in der Nähe geparkt werden kann, denn mit der alten Mutter sind wir nicht so beweglich. Und das Wetter war auch so, als ob es jeden Moment regnen würde.

Gestern Abend sind wir mit Mutter und allen Kindern und Enkeln in Katharinas Schule gefahren und haben uns die Aufführung „Vogelhochzeit“ angeschaut, in der Kathi auch singt. Mutti hat es gefallen. Danach sind wir noch zum Griechen was essen und trinken gefahren, da ist Mutti dann schlecht geworden, obwohl sie nichts essen wollte. Oder vielleicht deswegen?

Juni 2004 – Nachts, wenn Mutter geistert

Heute früh wollte Mutter sich selbst anziehen: Als ich ins Zimmer kam, stand sie da und konnte sich nicht rühren, weil sie die Pulloverärmel als Hosenbeine angezogen hatte und nun oben am Bund nicht mehr weiterkam, was habe ich lachen müssen! Mutter hat ihre Zähne verbummelt. Im Klo runtergespült? Im Bad liegen gelassen? Endlich habe ich sie unter ihrem Polster im Bett verbuddelt gefunden. Sie sind zu locker, Termin beim Zahnarzt nächste Woche.

Habe heute Nachsendeanträge für unsere Post den Sommer über ins Waldviertel gestellt. Dann Erkundigungen über Autoreisezüge für den Sommer, da wollen wir fort für drei Wochen. Dann habe ich mir zwei Gartengeräte und einen Fahrradkorb gekauft und ihn gleich montieren lassen, neue Sandalen in Favoriten gekauft und einkaufen fürs Abendessen war ich auch – das alles in anderthalb Stunden, während der Betreuungsdienst da war. So sieht mein Alltag aus, zum Heulen.

Immer öfter fange ich grundlos an zu weinen. Es überkommt mich dann eine Trauer, vielleicht, weil ich keine Nacht richtig schlafe, denn Mutter geistert. Nachts schaue ich etliche Male nach ihr, manchmal tappe ich ins Nasse, wenn sie es nicht geschafft hat, aufs Klo zu gehen. Heute sagt sie: „Mein Ohr bimmelt, das werden wohl die von zu Hause sein.“ Immer wieder kommt ihr Heimweh nach Zehlendorf durch. Aber sie ist sehr geduldig.

Juni 2004 – Teures Gebiss

Mit Mutter beim Zahnarzt – vier Plomben und das Gebiss notdürftig repariert, weiterer Termin nächste Woche, weil Ersatzteile bestellt werden müssen. Wird teuer werden. Die Rechnung kommt im Juli, wir müssen das vorstrecken und bekommen, wenn wir Glück haben, von der deutschen Postbeamtenkran­kenkasse einen Teil zurück.

Telefonat mit der Telekom in Düsseldorf, Lohnsteuerkarte wurde nicht abgegeben, weshalb Mutti in der höchsten Steuerklasse ist.

Juni 2004 – Ringen um jedes Wort

Heute kam der Beschluss über meine Sachwalterschaft in allen Angelegenheiten Mutter betreffend. Das war sehr berührend: Mutti hat es irgendwie mitbekommen und mich mittags gefragt: „Sag mal, was war denn heute, soll ich wieder weggebracht werden?“ Ich habe sie beruhigt und ihr noch einmal genau erklärt, was diese Sachwalterschaft bedeutet – medizinisch und ihre Finanzen betreffend. Sie hat plötzlich sehr zum Weinen angefangen und gefragt, ob es Streit zu Hause gegeben habe oder ob alles friedlich verlaufen sei. Ich habe sie beruhigt und gesagt, dass niemand gestritten habe und dass es lediglich heißt, ich bin nun in all ihren Angelegenheiten verantwortlich für sie und sorgepflichtig. Da ist sie mir um den Hals gefallen und hat sich nicht oft genug bedanken können.

Dann, nachmittags, war sie ziemlich durcheinander, hat gedanklich nichts zusammengebracht. „Irgendwer hat mich da rausgeholt“, sagt sie, „Großmutter war manchmal grob zu den Kindern“, „da hat mich wer weggebuchtet, wer war das nur, da kannst du mal sehen, was für eine blöde dumme Ziege ich bin, am besten, ich hänge mich auf, ich vergesse alles, das ist nicht schön.“ Und dann hat sie fürchterlich geweint. Sie will mir immerzu etwas sagen, aber sie findet die Worte nicht. Sie ringt dann um jedes einzelne Wort.

Gestern Abend wollte sie zur Wohnungstür raus: „Na auf die Straße, mal sehen, ob ich wen von meinen Leuten treffe.“ Vor kurzem meinte sie: „Die Jungs, die blufften bald mal durch die Trompete.“ Und zu mir meinte sie, als wir abends Besuch bekommen haben und ich sie gebeten hatte, mit uns allen zu essen: „Du musst an meiner Seite sein, sonst bin ich kein zahmes Bräutchen.“ Sie sagt so lustige Sachen und hat so viel Angst: dass sie wieder irgendwo abgesetzt wird und dass sie kein Geld hat. Ich beruhige sie dann, aber das hält oft nicht lange an. Ihre ängstlichen Mausäuglein gehen mir ans Herz.

Heute ist Julius wieder mit ihr unterwegs. Auch für ihn ist das alles eine große Belastung, auch unter diesem Gesichtspunkt sind unsere Streitigkeiten und Empfindlichkeiten zu sehen. Ich bin ihm sehr dankbar für seine Hilfe.

Sommer 2004 – Mutter entdeckt das Wasser

Das war schön – drei Wochen Urlaub in der Toscana. Und dann waren wir den Sommer über am Land, auch schön, aber stressig, heiß. Ich habe Mutti einen Badeanzug von mir angezogen, sie im Garten auf einen Stuhl gesetzt und mit dem Gartenschlauch lauwarm abgespritzt. Das taugt ihr, da kreischt sie wie ein kleines Kind.

Wir haben etwas probiert, das eigentlich beachtlich ist. Meine Mutter kann nämlich nicht schwimmen. Julius hat gemeint, warum wir sie bei dieser Hitze nicht mit in unseren kleinen Steinbruch-Badeteich nehmen. Nein, habe ich gesagt, da bekommt sie zu sehr Angst. Ach was, sagt Julius, probieren wir es doch. Und gestern haben wir sie doch tatsächlich zum Baden mit in den Teich genommen, das war ein Erlebnis: Wir haben ihr Badeschlapfen angezogen, um Brust und Hüfte die Badeschlangen von den Kindern gebunden und um die Arme Schwimmflügel gegeben. Zuerst hat sie gekreischt und nein, nein, nein gerufen. Dann hat sie sich doch tatsächlich aufs Wasser gelegt, mit den Beinen gestrampelt und sich von uns durchs Wasser ziehen lassen. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Angst, Überraschung und Freude.

Es macht ihr Spaß, sich bei dieser Affenhitze im Teich abzukühlen. Manchmal planscht sie auch nur mit den Füßen im Wasser und schaut den Libellen zu. Heute haben wir sie mit zum Dobra-Stausee genommen, als wir die Enkelkinder vom Zelten geholt haben, auch das hat ihr gefallen. Wir waren dort im Wirtshaus und sie hat ein ganzes Schnitzel verdrückt.

September 2004 – Mutter und das Geld

Mutti geht es sehr gut, bis auf ihre Demenz. Jeden Nachmittag überkommt sie die große Traurigkeit, dass sie nach Hause will, sagt sie – „oder werde ich weiter hier festgehalten?“ fragt sie. Julius gelingt es immer wieder, sie aufzumuntern. „Du bist ein schlimmes Mädi“, sagt er, „du schaust immer den Jungen nach.“ Mutti: „Na wem denn?“ Julius: „Na mir.“ Mutti: „Ach, da krieg ich aber gleich einen Schlaganfall.“ Und dann lacht sie. Oder ich sage: „Bleib ein braves Mädchen.“ Und sie: „Ach, wie langweilig …“ Ich sage ihr immer, was sie an Rente und Geld bekommt, zeige ihr die Kontoauszüge (mit denen sie aber nichts anfangen kann), aber es beruhigt sie, wenn ich sage, dass Vati so gut vorgesorgt hat für sie. „Da danke ich ihm – und dir“, sagt sie. Es beruhigt sie auch, wenn ich ihr sage, dass ich jetzt ihre Finanzen regele. „Das ist gut“, sagt sie. „Da machen wir einen flott!“