KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Solidarische Gesellschaft: Wofür wir streiten wollen

Von Mirko Messner (1.12.2010)

Einer von den beiden Texten, die Diskussionen im Bundesvorstand und auf einer bundesweiten Aktionskonferenz widerspiegeln, und neben dem Leitantrag als breites Diskussionsangebot dienen. Es sind dies keine Beschlussvorlagen, sondern Papiere, die die Diskussion begleiten wollen.

Diskussionsbeitrag im Vorlauf des Parteitages

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Sowohl Freiheit und Brüderlichkeit, als auch Solidarität wurden von ihren „Trägern“ (der bürgerlichen Revolution und der traditionellen Arbeiterbewegung) zunächst als klassenbezogene Parole bzw. als Appell an „die Bürger“ zum Zusammenhalt gegen Adel & Feudalismus bzw. an die „Klasse“ gegen Bourgeoisie und Imperialismus, aber auch als moralische, universale gesellschaftliche Gestaltungsprin­zipien verstanden. Ebenso, wie „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ – von „Schwesterlichkeit“ war keine Rede, die eingeforderte „Brüderlichkeit“ entstammte dem männlichen Blick auf die Welt – durch die kapitalistische ökonomische Praxis konterkariert wurden, wurde und wird proletarische „Solidarität“ durch eben diese tendenziell und immer wieder aufs Neue in Frage gestellt, in ihrer Substanz angegriffen, indem der/die einzelne Lohnabhängige als bürgerliches Subjekt nicht nur dem Kapitaleigner, sondern auch seines- bzw. ihresgleichen am Arbeitsmarkt als rechtlich gleichgestelle/r KonkurrentIn begegnet (vom Nicht-Mitdenken der Frauen im Rahmen der „Brüderlichkeit“, von internen Brüchen der politischen Solidarität durch Fraktionen der Arbeiterbewegung und von den Verkrümmungen im Realsozialismus einmal abgesehen).

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Auf dem Weg der Klasse „an sich“, die ihre Arbeitskraft verkauft, zu einer Klasse „für sich“ wurde Solidarität als Voraussetzung gewerkschaftlicher oder politischer Handlungsfähigkeit konkret erfahren und eingefordert. Konzessionen waren (durch Streikandrohung, Streik, gewerkschaftlichen Druck) umso leichter durchzusetzen, je geschlossener die Seite der Lohnabhängigen stand. Solidarität bewährte sich als Werkzeug, als Kampfmittel, beförderte die Erkenntnis, dass die Durchsetzung des gemeinsamen Interesses das individuelle Interesse und das individuelle Wohlergehen befördert, und wurde ihrerseits durch diese Erkenntnis gestärkt – gegen das Konkurrenzprinzip der kapitalistischen Produktionsweise.

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Der Realsozialismus hatte – unabhängig von seinen inneren Zuständen – als Systemkonkurrenz einen beschleunigenden Einfluss auf die sozialstaatliche Verfasstheit westeuropäischer Staaten, auf die nachvollziehende oder präventive Inkorporation solidarischer, sprich sozialstaatlicher Elemente, bzw. auf die fordistische „Verstaatlichung“, „Institutiona­lisierung“ von Solidarität (die nach wie vor männlicher Dominanz unterworfen blieb). Die Implosion des realen Sozialismus und die Schwächung der internationalen ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbe­wegung, die historische Niederlage einiger ihrer Politikformen beschleunigt den Rückbau dieser Elemente oder hat sie als Voraussetzung. Die neoliberale Zurichtung der Ökonomien lässt das Konkurrenzprinzip in einem bisher ungeahnten Ausmaß in sämtliche Poren der Gesellschaften sickern, indem sie nicht nur die zertrümmerten ehemals realsozialistischen Staaten mit einbezieht, sondern sämtliche Lebensbereiche in Wert zu setzen trachtet, das heißt: Sie dem Verwertungsprinzip bzw. der Gewinnmaximierung zu unterwerfen. Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt bizarre Ausmaße an, Prekarität – von vielen Frauen und MigrantInnen als „Normalzustand“ schon die längste Zeit erlebt – und allseitige Konkurrenz wird global zur prägenden Lebenserfahrung einer zunehmenden Zahl von Menschen; neoliberale Hegemonie gefährdet oder vernichtet nicht nur solidarische und egalitäre Segmente in den Gesellschaften (Versicherungen, freier Zugang zum Gesundheitswesen und Bildung usw.), vielfache soziale und demokratische Errungenschaften der Arbeiterbewegung. Neoliberale Hegemonie ist letztlich die tendenzielle Vernichtung dessen, was Solidarität in materieller und ideologischer, politisch-kultureller Hinsicht bedeutet. Materiell, indem sie im Produktionsbereich zu vernichten versucht, was als Ergebnis von Arbeits- und politischen Kämpfen an Regulierungen durchgesetzt wurde; indem sie als staatlich konzessionierte Umverteilungsmas­chine des gesellschaftlich geschaffenen Reichtums von unten nach oben funktioniert, als gegen die Solidarsysteme und gegen das öffentliche Eigentum gerichtetes Privatisierungs- bzw. Enteignungsin­strument; politisch-kulturell, indem sie überkommene bürgerlich-demokratische Zustände zusehends autoritär-staatlich „überschreibt“ (meistens unter dem Logo des Sicherheitsver­sprechens) und rechtsextreme, chauvinistische Politikalternativen begünstigt; indem sie ein sozialdarwinis­tisches Menschenbild den Beziehungen zwischen Individuen, Menschengruppen und Staaten zugrunde legt – und sie zunehmend zugrunde richtet.

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Selbst am „Geburtsort“ des proletarischen Solidaritätsbe­griffs, im Kernbereich der großen Industrien, wird als Resultat kampfentwöhnender, sozialpartner­schaftlich ausgerichteter Gewerkschaftspo­litik, mancherorts als Resultat der gezielten Zerschlagung gewerkschaftlicher Organisationen, aber auch als Folge der Umstrukturierungen der Produktionsmethoden die „Solidarität“ – z. B. durch die Implementierung autonomer oder halbautonomer Gruppenarbeit – nicht mehr in demselben Maße als im individuellen und kollektiven Interesse der Lohnabhängigen liegendes Macht-Mittel erkennbar bzw. erfahrbar. Im Gegenteil: die vielfältigen Formen halbautonomer Gruppenarbeit, Flexibilisierungen und Deregulierungen, Intensivierung und Ausweitung der Arbeitszeit können die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen vertiefen. Die daraus entstehende zunehmende physische und psychische Belastung verringert nicht nur die Zeit zur Rekreation, sondern auch die Zeit für kreativ-politische Arbeit, d. h. die Zeit, in der solidarisches Verhalten entstehen kann.

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Je größer – durch die Zunahme gesellschaftlichen Reichtums und technologischen Wissens – die ökonomische Möglichkeit wird, umwelt- und menschenverträgliche Lebensumstände für alle einzurichten, umso weiter rückt – so scheint es – die politische Machbarkeit aufgrund der sich weitenden, hegemonial abgesicherten globalen Kluft zwischen Arm und Reich, der vielfältigen Segmentierung und der klassenmäßigen, nationalen, alters- und geschlechtsmäßigen, religiösen usw. Spaltungen der Gesellschaften. Global heißt dies für die Agenda einer modernen ArbeiterInnen­bewegung, dass sie nicht mehr und nicht weniger zu schaffen hat als die praktisch-politische, kulturelle Rekonstruktion eines umfassenden Solidaritätsbe­griffs, der theoretisch und praktisch eben diese – auch globale – Segmentierung und Spaltung überwindet, mit dem Blick auf zu schaffende solidarische Gesellschaften. An diesem Punkt trifft der klassische sozialistische Begriff der Solidarität auf den von der „anderen möglichen Welt“, um die aus vielerlei ideologischen und politischen Zugängen her weltweit gestritten wird.

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Wenn die Darstellung bis zu diesem Punkt stimmt, könnte auch so formuliert werden: In der Losung von der „anderen möglichen Welt“ ist der universale Anspruch des aus der Arbeiterbewegung stammenden Begriffs der Solidarität aufgehoben. Einerseits. Andererseits: Soll dieser „aufgehobene“ Solidaritätsbegriff nicht nur moralischer Appell bleiben, sondern auch wieder praktisch-politisches Werkzeug des Fortschritts mit definierten Zielen, dann ist eben jene Erfahrung zu organisieren, die ihn seinerzeit zu einem Faktor antihegemonialer Macht werden ließ: Solidarisches Handeln des Kollektivs nutzt dem daran teilhabenden Individuum; oder: Die individuelle Lebensqualität der Angehörigen subalterner Schichten hängt unmittelbar oder mittelbar ab von der politischen und kulturellen Durchsetzungsfähig­keit der modernen ArbeiterInnen­klasse, vom Maß, in dem sie, bzw. ihre Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften usw. sich die Solidarität als „Betriebssystem“ ihrer allseitigen, auf Globalität gerichteten Politik (wieder) aneignen und so die Segmentierungen, denen sie auch selbst ausgesetzt sind, im vielfältigen Sinn des Wortes „aufheben“.

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Die Diversität (Verschiedenheit), die unterschiedlichen Lebensrealitäten und teilweise inkompatiblen Forderungen der vielfältigen sozialen und politischen Bewegungen sind einerseits zu einer hegemonialen Machttechnik geworden. Andererseits: Die Diversität anzuerkennen ist Voraussetzung für die Einübung solidarischen Verhaltens, für antihegemoniale Praxis. Womit wir bei der Frage nach der Rolle der Partei in diesem Prozess sind; der Sinn des Parteiförmigen unseres Kollektivs besteht genau darin: Die partikularen Interessen aufeinander zu beziehen, sie zu einem gesellschaftlichen Alternativentwurf zu synthetisieren. Anders gesagt: Es geht einerseits um das Wahrnehmen, nicht um das Wegdenken oder das Unifizieren der Diversität; diesbezüglich sind wir ja ein Stück weitergekommen. Statutarischer Ausdruck für die Anerkennung der Diversität ist die Abkehr vom monolithischen Parteiverständnis, praktischer die Einbindung vieler Genossen und Genossinnen in unterschiedliche Bewegungen. Wo wir andererseits entschieden zu langsam unterwegs sind, ist die Synthese. Und da kann uns die Losung von der solidarischen Gesellschaft, so lautet das Ergebnis der letzten Klausur des Bundesvorstands, weiterbringen – wenn, und das ist entscheidend, wir ständig eines mitdenken: Das Gemeinsame, das „Solidarische“ ergibt sich nicht einfach aus der „objektiven“ Lage der Klasse, denn diese Lage besteht aus unterschiedlichen, häufig auch widersprüchlichen „objektiven Lagen“. Das „Solidarische“ muss bewusst hergestellt, erstritten und organisiert werden. So wie eh und je.

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Unser Solidaritätsbegriff ist klassenbezogen, was bedeutet: Es geht um Entwicklung gegenhegemonialer Macht und um die Herstellung moralischen, kulturellen, auch emotionalen Zusammenhangs und Zusammenhalts – letzterer kann jenen „Flow“ bewirken, den wir nötig haben. Der Zusammenhalt im Kampf ist nicht nur politischer Aspekt der Solidarität, sondern eben auch einer der individuellen „Befindlichkeit“. Die Meisterung des Alltags, des (Über-)Lebens im Rahmen des Systems, das Aufeinander-Beziehen diverser sozialer Bewegungen oder Initiativen, das Verknüpfen emanzipatorischer Bewegungen mit Formen repräsentativer Politik auf kommunaler, betrieblicher und anderen Ebenen, mit gewerkschaftlichen Orientierungen hat das Ziel, Basisstrukturen kapitalistischer Ökonomie und der Marktlogik als (allein legitimierte, ins Sakrale erhobene) gesellschaftsfor­mende Kräfte in Frage zu stellen, ist der politische und kommunikative Anspruch, den eine „revolutionäre Realpolitik“ zu erfüllen hat.

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Die Klassenbezogenheit unseres Solidaritätsbe­griffs ist essenziell, wenn wir von der Orientierung auf eine solidarische Gesellschaft sprechen. „Solidarität“ ist ja, ähnlich wie der Begriff der „Reform“, auch im hegemonialen Krisendiskurs enthalten. Anders gesagt: Zu einer Verpackung im bürgerlichen Gemischtwarenhandel verkommen, für diverse Inhalte, darunter solche, die mit unserem unvereinbar sind (Solidarität als Kooperation der internationalen Geldsäcke. Solidarität als rassistisches Derivat bzw. als Zusammenhalt der „eigenen“ Gruppe – Nation, Volksgemeinschaft, „Rasse“ – gegen andere; Solidarität als Appell zum Verzicht auf Lohnanteile, zur sozialen Nivellierung nach unten), etwas anderes meinen (Solidarität als Reparaturvorhaben; Solidarität als Propagandamittel für ehrenamtliches Engagement nach Kürzung von Sozialausgaben und Ausgaben für Kunst usw.) oder auf anderen Sichtweisen beruhen, die mit unserer kompatibel sind (Wohltätigkeit – soweit sie kein Geschäftzweig der Reichen ist, Caritas).

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Zusammenfassend: Die Akteure des neoliberalen Umbaus der Gesellschaften und die Regierungen sind nach dem jüngsten spektakulären Krach entschlossen, wie gewohnt weiterzumachen. Die zugunsten des Finanzkapitals geplünderten Staatskassen sollen durch Vernichtung sozialer Kompromisse im Produktionsbereich, durch „Reformen“, sprich durch Abriss oder Reduzierung sozialstaatlicher Einrichtungen und Errungenschaften, durch beschleunigte Umverteilung von unten nach oben saniert werden. Dies lädt die Krise – bzw. das finanzmarktge­triebene, ökonomische, ökologische und demokratiepoli­tische Krisengemenge, die Krise des kapitalistischen Zivilisationsmo­dells – weiter auf. Indem wir die Zerschlagung und präventive Unterdrückung von Solidarsystemen, die Neuregulierung der Beziehungen im Produktionsbereich sowohl als einen ökonomischen als auch ideologischen Kern neoliberaler Gesellschaftsges­taltung benennen, ist unser Vorschlag, sich gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft in Bewegung zu setzen, die Antwort auf diese Tendenz.

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Diese Antwort kann einerseits das, was wir bereits tun – uns nach Kräften in sozialen Initiativen einbringen, selbst welche entwickeln, in Vertretungskörper­schaften entsprechend agieren –, auf den Begriff bringen, sie politisieren, neue Formen anregen. Andererseits ist diese Antwort ein Angebot an jene, die sich eine neue Linke in Österreich wünschen, denn es gibt aufgrund der Allseitigkeit der Sozialdemontage so gut wie keinen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, wo nicht „vor Ort“ und sofort konkret in diesem Sinne gearbeitet werden kann – und mancherorts sowieso schon wird. Eine neue Linke in Österreich kann sich auf diesem Weg bzw. auf diesen Wegen herausbilden. Ob der Streit um eine solidarische Gesellschaft zum Ansatzpunkt eines Kampfes um eine andere, von uns als sozialistisch begriffene Gesellschaft wird, bzw. von den AkteurInnen als solcher verstanden wird, hängt ausschließlich von ihnen selbst ab – also auch von uns und unseren Vorstellungen, an denen wir noch gründlich zu arbeiten haben. Denn die allgemeinen Zukunftsprojek­tionen, die wir in diversen Papieren mehr oder weniger begründet niedergeschrieben haben (Vergesellschaftung jener Produktionsmittel, die für das Überleben aller nötig sind, und vieles andere mehr), sollen sie politikwirksam werden, müssen auf die Ebene des Streitens um eine solidarische Gesellschaft gehoben und weiterentwickelt werden.

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