PARTEI
Von Harald Neubert (18.1.2011)
Vortrags- und Seminarbehelf für die Gramsci-Veranstaltung der KPÖ, 7. und 8. Juni 2008, Salzburg
Inhalt
> Einige erklärende Einfügungen zu den sowjetischen Angehörigen
Gramscis
> Briefe an seine Söhne
> Allgemeine Bemerkungen zum Werk Gramscis
> Untergliederung seiner schriftlichen Hinterlassenschaft
>> Erste Rubrik: Journalistische und publizistische Schriften
>> Zweite Rubrik: Spezifische Dokumente aus der
parteipolitischen Tätigkeit Gramscis
>> Dritte Rubrik: Studien zur italienischen Nationalgeschichte
und Kultur
>> Vierte Rubrik: Die Briefe Gramscis
>> Fünfte Rubrik: Die Gefängnishefte
Was veranlaßt uns heute, uns 71 Jahre nach dem Tode des Italieners Antonio Gramscis mit ihm und seinem Werk zu beschäftigen? Geht es nur um die Würdigung einer historischen Persönlichkeit oder vermag er uns heute noch ein politisches und theoretisches Instrumentarium für die Gesellschaftsanalyse und für sozialistische Politik zu bieten?
Antonio Gramsci war als ein hervorragender Vertreter der italienischen Kultur und Politik der ersten Hälfte des 20. Jh. und zugleich in vieler Hinsicht eine tragische Figur. In der kommunistischen Bewegung wurde er zwar geehrt, vor allem, weil er entschiedener Gegner des Faschismus war und eines seiner prominentesten Opfer wurde. Doch seine zum Teil bahnbrechenden Ideen hatten auf die kommunistische Bewegung keinen Einfluß, wenn man von einer gewissen Rezeption in der Italienischen KP nach 1944 absieht.
Was charakterisierte seine Persönlichkeit? Er war Historiker und Philosoph, Journalist, Literatur- und Kulturkritiker, Politiker, Parteiführer und Theoretiker der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung. Das heutige Interesse an ihm bezieht sich vor allem auf seinen Beitrag zur Entwicklung der marxistischen Theorie. Dabei muß man betonen, daß seine Bedeutung als marxistischer Theoretiker sich nicht von der des kommunistischen Parteiführers trennen läßt, wie das gelegentlich geschieht.
Palmiro Togliatti unterstrich diesen Zusammenhang, indem er folgende Einschätzung traf: Gramsci war Theoretiker der Politik, vor allem aber war er ein praktischer Politiker, das heißt ein Kämpfer. Seine Auffassung von Politik lehnt sowohl den Instrumentalismus als auch den abstrakten Moralismus oder die abstrakte Ausarbeitung von Theorien ab. [1]
Die wichtigsten Lebensdaten Gramscis:
Einige erklärende Einfügungen zu den sowjetischen Angehörigen Gramscis
Briefe an seine Söhne
Während Gramsci in Italien im Zuchthaus saß, wuchsen seine beiden Söhne bei der Mutter in Moskau auf. Nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit den Söhnen unterhält sich Gramsci brieflich über ganz persönliche Dinge. So war er um sie besorgt und um ständigen Kontakt zu ihnen bemüht.
Delio schickt ihm kindliche Zeichnungen, für die er sich bedankte. In mehren Briefen tauschten sie Gedanken über das Leben von Elefanten aus. U.a. antwortete Gramsci: Ich weiß nicht , ob sich ein Elefant so weit entwickeln kann, daß er ein solches Wesen wie der Mensch wird, der fähig ist, die Kräfte der Natur zu beherrschen und sich die Natur für seine Zwecke nutzbar zu machen In einem Brief fragt Gramsci Delio, warum er nicht über seinen Papagei schreibt; ob er denn noch lebe
Von dem anderen Sohn, Giuliano, will Gramsci wissen, wie es in der Schule läuft, was ihm am meisten gefalle, ob es das Leben am Meer ist oder das Leben in Waldesnähe, zwischen hohen Bäumen. Er solle ihm mal seinen ganzen Tagesablauf beschreiben, damit er eine Vorstellung bekomme von seinem Leben in Moskau.
Aktuelle Bekenntnisse des Enkels von Gramsci
Aus: LUnità, 18. Oktober 2007
Artikel von Antonio Gramsci jr., Enkel von Antonio Gramsci, der wie sein Vater Giuliano (gest. am 23. Juli 2007) als Musiker in Moskau lebt und ein Buch über die Familie seiner Großmutter Julia Schucht, der Frau Gramscis, schreibt.
Ich muß bekennen, daß ich vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion kein besonderes Interesse an meinem Großvater besaß. In der Sowjetunion wurde der Person Antonio Gramscis wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht. Alle kannten Palmiro Togliatti, der den historischen Führer der italienischen kommunistischen Bewegung verkörperte. In den Schulbüchern waren Gramsci nur wenige Zeilen gewidmet, in denen er mehr als Märtyrer des faschistischen Regimes und viel weniger als Denker und politischer Führer dargestellt wurde. In Rußland wurden nur wenige Werke Antonio Gramscis publiziert, vor allem seine politischen Schriften vor der Inhaftierung. Ich vermochte mich als typischer sowjetischer Jugendlicher, der bereits gegenüber der umfassenden offiziellen Propaganda allergisch war, für das Thema nicht zu interessieren
Alles änderte sich nach 1991, das für mein Leben eine Entscheidungsjahr war, da zwei große Ereignisse zusammenfielen der 100. Geburtstag Antonio Gramscis und das Auseinander brechen der UdSSR. Meine Reise nach Italien, die von der Gramsci-Stiftung organisiert worden war, dauerte vier Monate
Aus: LUnità, 20. November 2007
Artikel von Antonio Gramsci jr.: Viele Irrtümer in Bezug auf meinen Großvater
Gramsci wendet sich gegen die Behauptung, die Familie Schucht sei von Stalin verfolgt wurden. Im Gegenteil hätte sie Privilegien genossen, da sie zur bolschewistischen Elite gehörte. Ebenfalls sei die Kontroverse zwischen Gramsci und Togliatti übertrieben wurden. Es hätte auch keinen Bruch Gramscis mit der Partei gegeben.
Gramsci wäre in der Sowjetunion verehrt worden, weil man ja Heilige des Kommunismus brauchte.
Falsch sei auch die Behauptung, Julia Schucht sei vom sowjetischen Geheimdienst auf Gramsci angesetzt gewesen, um ihn zu überwachen.
Gramsci hatte in Sowjetrußland vom Frühjahr 1922 bis zum Herbst 1923 nützliche Erfahrungen über die anfängliche Maßnahmen, Probleme und erste Ergebnisse einer Entwicklung zum Sozialismus machen können; und er sah sich aus westlicher Sicht nach seiner Rückkehr aus Moskau mit einer neuen, veränderten Situation konfrontiert, die ihn veranlaßte, sie gründlich zu analysieren, um aus ihr die erforderlichen theoretischen und politisch-strategischen Schlußfolgerungen zu ziehen. Damit erwies er sich als der prominenteste und originellste Marxist nach Lenins Tod, besser gesagt: in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen.
Zwischen der Oktoberrevolution, dem Ende des ersten Weltkriegs und Mitte der zwanziger Jahre hatten sich demnach tiefgreifende Veränderungen in Europa vollzogen, die seitens der Kommunisten der gründlichen Analyse und Einschätzung bedurften. Den Kommunisten stellten sich dadurch hinsichtlich der marxistischen Theorie, der revolutionären Strategie und des politischen Kampfes vielfältige neue Aufgaben. In diesem Zusammenhang entbrannten heftige Diskussionen, an denen sich viele Theoretiker und Politiker der Arbeiterbewegung, und zwar mit unterschiedlichen Bewertungen, beteiligten (Stalin, Bucharin, Trotzki, Thalheimer, Gramsci, Otto Bauer u. a.).
Für unsere Zwecke wollen wir uns auf den Beitrag Gramscis beschränken. Welche Fragen bedurften generell nach Gramscis Auffassung einer Beantwortung, mit denen auch Gramsci als Parteiführer unmittelbar konfrontiert war?
Dominierend wurden die einseitige, dogmatisierende, simplifizierende Rezeption des politischen und theoretischen Erbes von Marx, Engels und Lenin und die Interpretation der veränderten Situation mit dem Anspruch auf ein unbestreitbares Interpretationsmonopol durch J. W. Stalin.
Gramsci betrachtete sich, indem er sich mit diesen Problemen beschäftigte, als Schüler Lenins, wuchs allerdings auf den theoretischen und strategischen Erkenntnissen Lenins fußend hinsichtlich der Rezeption und Entwicklung des Marxismus über diesen hinaus.
Im Unterschied zu Stalin verkörperte Gramsci somit den wohl schöpferischsten marxistischen Theoretiker in der kommunistischen Bewegung, von dessen Erkenntnissen und Ansichten noch heute viele zeitgemäß und für das Selbstverständnis und die Politik der sozialistischen Linkskräfte hilfreich sind. Direkt hat Gramsci sich mit Stalin jedoch nicht auseinandergesetzt.
Nochmals sei Togliatti zitiert, der Anfang der 60er Jahre betonte: Gramsci war ein Denker , der in Westeuropa in den letzten fünfzig Jahren den größten Beitrag zur Vertiefung und zur Entwicklung der marxistischen Theorie auf der Grundlage einer breiten Kenntnis der gesamten intellektuellen Entwicklungen des ganzen Westens und einer vertieften Kenntnis der Bedingungen unseres Landes geleistet hat.[2]
Viele Erkenntnisse Gramscis betrafen aber nicht nur die kommunistische Bewegung und den Sozialismus, sondern hatten generelle Bedeutung für den historischen Materialismus und somit für die allgemeine Gesellschaftstheorie und Geschichte
[1] Togliatti: Der Leninismus im Denken und Handeln von Antonio Gramsci. In: Palmiro Togliatti: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1977, S. 513
[2] Palmiro Togliatti: Problemi del movimento operaio internazionale (1956 1961). Rom 1962, S. 127 f.