PARTEI
Von: Walter Baier (23.1.2016)
Gramsci als Theoretiker in einem kurzen Text zu würdigen, geht gar nicht. Daher nur zwei Gedanken über seine besondere Stellung.
Veranstaltungshinweis: Krise und Transformation des
Kapitalismus – Im Dialog mit Gramsci.
Vortrag und Diskussion mit Walter Baier am 3. Februar, 18.30 Uhr in Wien
Ort: Haus der KPÖ, Drechslergasse 42, 1140 Wien
Gramsci als Theoretiker in einem kurzen Text zu würdigen, geht gar nicht.
Daher nur zwei Gedanken über seine besondere Stellung.
Gramsci forderte in seinen, im faschistischen Kerker verfassten Notizen nicht
weniger als einen Paradigmenwechsel der damals jungen kommunistischen Bewegung.
Trotzdem war er kein kommunistischer Dissident, weder ein ganzer noch ein
halber. Er war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, ihr Sekretär
ab 1926 und führender Vertreter der 1918 gegründeten Kommunistischen
Internationale.
Mit Gramsci zu theoretisieren, bewegt sich so in einem bestimmten Rahmen. Sein
Begriff der „Hegemonie“, der „das ‚kulturelle Moment‘‘(1) ins
Zentrum stellt, ist verbunden mit den „gesellschaftlichen Hauptgruppen“, die
Hegemonie ausüben oder um sie kämpfen. (Gramsci, der im Gefängnis schrieb,
war gezwungen anstelle der verpönten Begriffe „Klasse“ und
„Klassenkampf“ unverfängliche Wörter zu verwenden).
Ein häufig zitierter Gedanke seiner Staatstheorie lautet, „dass eine Klasse
auf zweierlei Art herrschend sei, nämlich ‚führend’ und
‚herrschend’“(2). Bezeichnen „führen“, „Hegemonie“ ausüben, die
Fähigkeit, Zustimmung zu gewinnen, so meint „herrschen“, über die
staatlichen Machtmittel zu verfügen, sie auch gegen Widerstände
durchzusetzen.
Diese Differenzierung führt zu einer Umkehrung eines bis dahin unter
Kommunist_innen unbestreitbaren, von W.I. Lenin aufgestellten Postulats: „Die
Hauptfrage der Revolution“, schrieb dieser, sei „die Frage der
Staatsmacht.“(3). Das wusste Gramsci, als er seinen „allgemeinen
Staatsbegriff“ in eine nicht minder einprägsame Formel fasste: „Staat =
politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit
Zwang.“(4)
Nicht durch Hegemonie unmerklich gemachter Zwang sondern demokratische
Zustimmung ausgestattet mit Machtmitteln. Warum diese Umkehrung?
1923 war die revolutionäre Krise nach dem Ersten Weltkrieg, die zu
zeitweiligen kommunistischen Regierungen in Bayern und Ungarn und zu großen
Rätebewegungen in Deutschland, Österreich und Italien geführt hatte, zu Ende.
Somit war Russland mit seinem sozialistischen Experiment isoliert geblieben.
Mehr noch, es hatte sich das dort erfolgreiche Modell des Aufstands, aber damit
die gesamte, aus dem langen 19. Jahrhundert übernommene Vorstellung der
Revolution und der Diktatur des Proletariats als nicht anwendbar für die
entwickelten kapitalistischen Gesellschaften im Westen erwiesen.
Darauf antwortet Gramsci. Um den Staat im Westen zu charakterisieren, schreibt
er von einer „robuste(n) Struktur der Zivilgesellschaft“, die man „beim
Wanken des Staats“ gewahrte, gegenüber dieser er sich nur als „ein
vorgeschobener Schützengraben“ erwies, und hinter dem sich „eine robuste
Kette von Festungen und Kasematten befand.“(5)
Aus der heute beinahe unverständlichen Militärsprache seiner Zeit übersetzt,
meint Gramsci, dass die Gewinnung der Hegemonie, das allgemeine Prinzip jeder
sozialen Transformation darstelle, während die staatlichen Machtmittel nur
eines ihrer Momente wären, notwendig aber nicht hinreichend und auch nicht
geeignet, das allgemeine Prinzip außer Kraft zu setzen. Jede Herrschaft, die
sich nicht auf Zustimmung stützt, muss früher oder später fallen. Muss man
für die Gültigkeit dieser Schlussfolgerung Beispiele zitieren?
Gramsci unterstreicht die Bedeutung der kulturellen Bildung und Erziehung. Wer
aber erzieht die Erzieher_innen, fragte Marx in den Feuerbach-Thesen Die
kulturelle Befreiung der „untergeordneten Gruppierung“ kann nichts anders
sein als ihre (Selbst)-Transformation in eine zur Führung/Hegemonie befähigte
Klasse. Das ist der von Gramsci für den westlichen Kommunismus erforderlich
gehaltene Paradigmenwechsel.
Marx und Engels hatten in „Die Deutsche Ideologie“, den „Kommunismus“
nicht als einen Zustand vorgestellt, der „hergestellt werden soll, ein Ideal,
wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus“,
schrieben sie in dieser frühen Gemeinschaftsarbeit, „die wirkliche
Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“(6)
Dem ist Antonio Gramscis Idee vom kulturellen Aufstieg der unterdrückten Klasse
bedeutend näher gekommen als die in der zeitgenössischen Arbeiterbewegung
vorherrschenden, auf den Staat fixierten Konzepte sozialdemokratischer und
kommunistischer Parteien, die, wie sich bald zeigte, in die politische
Niederlage oder die stalinistische Diktatur führten.
Daher interessiert Gramsci auch heute noch.
Fußnoten (im Text in Klammern):
1 Gefängnishefte Bd. 6, a. a. O., S. 1335. In den anschließenden
Zeilen gibt Gramsci eine bemerkenswerte Definition des Begriffes Hegemonie.
2 Gramsci, Antonio „Gefängnishefte Bd. 1“, Berlin 1991, S.
101.
3 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Eine der Kernfragen der Revolution“,
in: Lenin-Werke Bd. 25, Berlin 1974, S. 378.
4 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Bd. 4, Berlin 1992, S. 783.
5 Ebenda, S. 874.
6 Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Die deutsche Ideologie“ in: dies.
Werke (MEW) Bd. 3, Berlin 1969, S. 35.