KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Antonio Gramsci (22. Jänner 1891 – 27. April 1937)

Von: Walter Baier (23.1.2016)

Gramsci als Theoretiker in einem kurzen Text zu würdigen, geht gar nicht. Daher nur zwei Gedanken über seine besondere Stellung.

Veranstaltungshin­weis: Krise und Transformation des Kapitalismus – Im Dialog mit Gramsci.
Vortrag und Diskussion mit Walter Baier am 3. Februar, 18.30 Uhr in Wien
Ort: Haus der KPÖ, Drechslergasse 42, 1140 Wien

Gramsci als Theoretiker in einem kurzen Text zu würdigen, geht gar nicht. Daher nur zwei Gedanken über seine besondere Stellung.
Gramsci forderte in seinen, im faschistischen Kerker verfassten Notizen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel der damals jungen kommunistischen Bewegung. Trotzdem war er kein kommunistischer Dissident, weder ein ganzer noch ein halber. Er war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, ihr Sekretär ab 1926 und führender Vertreter der 1918 gegründeten Kommunistischen Internationale.
Mit Gramsci zu theoretisieren, bewegt sich so in einem bestimmten Rahmen. Sein Begriff der „Hegemonie“, der „das ‚kulturelle Moment‘‘(1) ins Zentrum stellt, ist verbunden mit den „gesellschaftlichen Hauptgruppen“, die Hegemonie ausüben oder um sie kämpfen. (Gramsci, der im Gefängnis schrieb, war gezwungen anstelle der verpönten Begriffe „Klasse“ und „Klassenkampf“ unverfängliche Wörter zu verwenden).
Ein häufig zitierter Gedanke seiner Staatstheorie lautet, „dass eine Klasse auf zweierlei Art herrschend sei, nämlich ‚führend’ und ‚herrschend’“(2). Bezeichnen „führen“, „Hegemonie“ ausüben, die Fähigkeit, Zustimmung zu gewinnen, so meint „herrschen“, über die staatlichen Machtmittel zu verfügen, sie auch gegen Widerstände durchzusetzen.
Diese Differenzierung führt zu einer Umkehrung eines bis dahin unter Kommunist_innen unbestreitbaren, von W.I. Lenin aufgestellten Postulats: „Die Hauptfrage der Revolution“, schrieb dieser, sei „die Frage der Staatsmacht.“(3). Das wusste Gramsci, als er seinen „allgemeinen Staatsbegriff“ in eine nicht minder einprägsame Formel fasste: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang.“(4)
Nicht durch Hegemonie unmerklich gemachter Zwang sondern demokratische Zustimmung ausgestattet mit Machtmitteln. Warum diese Umkehrung?
1923 war die revolutionäre Krise nach dem Ersten Weltkrieg, die zu zeitweiligen kommunistischen Regierungen in Bayern und Ungarn und zu großen Rätebewegungen in Deutschland, Österreich und Italien geführt hatte, zu Ende. Somit war Russland mit seinem sozialistischen Experiment isoliert geblieben. Mehr noch, es hatte sich das dort erfolgreiche Modell des Aufstands, aber damit die gesamte, aus dem langen 19. Jahrhundert übernommene Vorstellung der Revolution und der Diktatur des Proletariats als nicht anwendbar für die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften im Westen erwiesen.
Darauf antwortet Gramsci. Um den Staat im Westen zu charakterisieren, schreibt er von einer „robuste(n) Struktur der Zivilgesellschaft“, die man „beim Wanken des Staats“ gewahrte, gegenüber dieser er sich nur als „ein vorgeschobener Schützengraben“ erwies, und hinter dem sich „eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand.“(5)
Aus der heute beinahe unverständlichen Militärsprache seiner Zeit übersetzt, meint Gramsci, dass die Gewinnung der Hegemonie, das allgemeine Prinzip jeder sozialen Transformation darstelle, während die staatlichen Machtmittel nur eines ihrer Momente wären, notwendig aber nicht hinreichend und auch nicht geeignet, das allgemeine Prinzip außer Kraft zu setzen. Jede Herrschaft, die sich nicht auf Zustimmung stützt, muss früher oder später fallen. Muss man für die Gültigkeit dieser Schlussfolgerung Beispiele zitieren?
Gramsci unterstreicht die Bedeutung der kulturellen Bildung und Erziehung. Wer aber erzieht die Erzieher_innen, fragte Marx in den Feuerbach-Thesen Die kulturelle Befreiung der „untergeordneten Gruppierung“ kann nichts anders sein als ihre (Selbst)-Transformation in eine zur Führung/Hegemonie befähigte Klasse. Das ist der von Gramsci für den westlichen Kommunismus erforderlich gehaltene Paradigmenwechsel.
Marx und Engels hatten in „Die Deutsche Ideologie“, den „Kommunismus“ nicht als einen Zustand vorgestellt, der „hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus“, schrieben sie in dieser frühen Gemeinschaftsar­beit, „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“(6)
Dem ist Antonio Gramscis Idee vom kulturellen Aufstieg der unterdrückten Klasse bedeutend näher gekommen als die in der zeitgenössischen Arbeiterbewegung vorherrschenden, auf den Staat fixierten Konzepte sozialdemokra­tischer und kommunistischer Parteien, die, wie sich bald zeigte, in die politische Niederlage oder die stalinistische Diktatur führten.
Daher interessiert Gramsci auch heute noch.

Fußnoten (im Text in Klammern):
1 Gefängnishefte Bd. 6, a. a. O., S. 1335. In den anschließenden Zeilen gibt Gramsci eine bemerkenswerte Definition des Begriffes Hegemonie.
2 Gramsci, Antonio „Gefängnishefte Bd. 1“, Berlin 1991, S. 101.
3 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Eine der Kernfragen der Revolution“, in: Lenin-Werke Bd. 25, Berlin 1974, S. 378.
4 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Bd. 4, Berlin 1992, S. 783.
5 Ebenda, S. 874.
6 Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Die deutsche Ideologie“ in: dies. Werke (MEW) Bd. 3, Berlin 1969, S. 35.