Von Walter Baier (12.12.2014)
Vor drei Jahrzenten war mir dieser Text untergekommen, und immer wenn ich über Fragen des Verhältnisses zu Christen und Christinnen schreibe oder spreche, bildet er meinen Ausgangspunkt. Die Debatte innerhalb der Linken um die Religion ist viel älter und geht auf das berühmte, plakative Wort von der Religion als das »Opium des Volks« zurück (meist falsch zitiert als »Opium für das Volk«). Tatsächlich hatte der junge Marx keineswegs etwas Plakatives, sondern sehr Widersprüchliches geschrieben: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«3
Was wir hier lesen, ist keineswegs von Verachtung geprägt, sondern beschreibt Religion als populären Ausdruck eines wirklichen Leidens der Menschen, das sie unter den gegebenen geschichtlichen Umständen noch nicht begreifen können, aber gegen das sie nichtsdestotrotz aufbegehren. Diesen Respekt vor religiöser Motivation muss man beachten, wenn man über Christenheit und Katholizismus spricht. Der römisch-katholischen Kirche gehören weltweit mehr als 1,2 Milliarden Menschen an. Damit ist die Kirche nicht nur spirituelle Supermacht und patriarchale Hierarchie, sondern auch eine komplexe, aus unzähligen Strukturen gebildete Superstruktur, die mit tausenden Fäden in die Gesellschaft eingewoben ist. Alle gesellschaftlichen Konflikte und ihre Protagonisten finden in der Kirche einen Platz und einen Ausdruck. Sie nimmt nicht nur an den Auseinandersetzungen der heutigen Welt teil, sondern ist auch einer ihrer am meisten umkämpften Schauplätze.
Das intellektuelle Feld der Kontroversen ist die Theologie. Leonardo Boff, führender Vertreter der Theologie der Befreiung, versuchte in den 70er-Jahren, den Raum für diese Auseinandersetzung zu öffnen. »Keine Tendenz«, so schrieb er in seinem Werk »Kirche: Charisma und Macht« dürfe »die Theologie monopolisieren und sich als die Theologie ausgeben«4. Nicht seine Ansichten über Gott, sondern die über die Welt, aber insbesondere sein Zweifel an der Autorität der handverlesenen Zahl konservativer Kleriker in Rom war es, derentwegen ihm 1985 von der Kongregation für Glaubensfragen ein Schweigegebot auferlegt wurde.5 Das ganze Vierteljahrhundert, das auf die Öffnung der Kirche in den 60er-Jahren folgte, war durch eine konservative Gegenbewegung geprägt. Auch damit bewegte sich die Kirche im Trend der Zeit. Bereits unter Benedikt XVI. zeigte der konservative Block aber Risse, doch erst die Wahl des ersten Lateinamerikaners zum Papst brachte eine Wende. Im November 2013 veröffentlichte der neue Papst mit dem Lehrbrief Evangelii Gaudium seine »Regierungserklärung«. Darin griff er wichtige Motive der Theologie der Befreiung auf, insbesondere die Option für die Armen. »Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei«, lautet eine der eindringlichen Stellen. Evangelii Gaudium spricht soziale Wahrheiten in aller Deutlichkeit aus: »Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden.«6 An anderer Stelle heißt es: »Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen. Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordert etwas, das mehr ist als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt; es verlangt Entscheidungen, Programme, Mechanismen und Prozesse, die ganz spezifisch ausgerichtet sind auf eine bessere Verteilung der Einkünfte, auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und auf eine ganzheitliche Förderung der Armen, die mehr ist als das bloße Sozialhilfe System.«
Derartige Äußerungen bedeuten nicht, dass die Kirche »links« würde, denn auch unter Franciscus ist sie eine spirituelle Institution. Neu aber ist, dass der Papst die Christen und Christinnen zu kritischem, sozialem Engagement auffordert. Das wird dazu führen, dass innerhalb der Kirche sich neue Räume für sozial-kritische Praxis und für den Dialog mit außerkirchlichen Kräften öffnen. Würden Millionen und Abermillionen Christen der Aufforderung des Papstes folgen und sich in den Kämpfen der Welt engagieren, wäre das allerdings der Beginn einer Entwicklung von historischer Bedeutung. Jeder ehrliche Dialog impliziert aber auch die Frage nach der Grenze, die zumindest im Augenblick nicht überschritten werden kann. Sie verläuft bezeichnenderweise dort, wo auch der Marxismus große Versäumnisse aufzuholen hat, nämlich in der Kritik des patriarchalen Charakters der Gesellschaft. Heute kristallisiert sich diese Auseinandersetzung im Kampf um die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper und ihr Recht, eine Schwangerschaft abzubrechen. Hier ist bei aller Aufgeschlossenheit keine neue Position der katholischen Kirche in Sicht, und seitens der Linken ist sie nicht verhandelbar. Doch bedeutet Gegensätzlichkeit in einer Frage nicht, dass es unmöglich ist, in anderen Fragen zu kooperieren. Dialog und Kooperation ist vor allem im Hinblick auf jene weltweite soziale Gerechtigkeit möglich, die nun vom Papst so direkt angesprochen wurde, das heißt das Recht auf eine die Lebenshaltung ermöglichende, menschenwürdige Erwerbsarbeit, auf ein existenzsicherndes Einkommen, auf Wohnung, auf Schutz vor Armut sowie auf den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur, also den, von den Arbeiterbewegungen in einem Teil der Welt durchgesetzten und selbst dort wieder in Frage gestellten zivilisatorischen Fortschritt.
Mehr als zwei Jahrhunderte lang standen Christen und Arbeiterbewegung in weltanschaulich und politisch entgegengesetzten Lagern. Dafür gibt es konkrete und praktische Gründe. Soweit sich der Gegensatz auf die Weltanschauung bezog, knüpfte er weniger an Karl Marx an, sondern an Friedrich Engels, der als die »große Grundfrage aller Philosophie die nach dem Verhältnis von Denken und Sein …, des Geistes zur Natur« bezeichnet hatte, von deren Beantwortung alles Weitere abhänge.7 Hängt aber von der Beantwortung einer philosophischen Frage wirklich alles Weitere ab? Gibt es in diesem Sinn überhaupt so etwas wie eine Grundfrage der Philosophie, die die denkende Menschheit in zwei große, sich unversöhnlich gegenüberstehende Gemeinschaften trennt? Gewiss! Von Marx wurde sie in nicht überbietbarer Prägnanz, und keineswegs zufällig im Kontext einer Kritik des materialismus Ludwig Feuerbachs zu Papier gebracht. »die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert«, schreibt Marx in seiner berühmten 11. These zu Feuerbach, »es kömmt drauf an, sie zu verändern.«8 Man kann es auch anders ausdrücken: Angesichts des großen Unrechts in der Welt und der Gefahren, die der Menschheit drohen, kann es keine philosophischen Ausreden dafür geben, dass Menschen, die guten Willens sind, nicht miteinander kooperierten. Oder, um es mit Erich Kästner zu sagen: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
1 Pasolini, Pier Paolo (1998): »Freibeuterschriften die Zerstörung der Kultur des einzelnen durch die Konsumgesellschaft« neu hrsg. von Peter Kammerer, Verlag Klaus Wagenbrach, Berlin, S. 76.
2 Pasolini, Pier Paolo a.a.o. S. 73.
3 Marx, Karl: (1843/44): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Marx/Engels Werke, Band 1, Berlin 1969, S. 385.
4 Boff, Leonardo (1985): »Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie«, Patmos Verlag, Düsseldorf, S. 31.
5 Drei Jahre nach erscheinen des Buches wurde in einem Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre (Kardinal Joseph Ratzinger) die Frage aufgeworfen, ob der in »Kirche: Charisma und Macht« entwickelte Diskurs »vom Glauben gelenkt oder von Prinzipien ideologischer Natur (einer gewissen neomarxistisachen Inspiration)« sei.
6 Evangelii Gaudium: http://w2.vatican.va/…udium_ge.pdf. S. 183.
7 Engels, Friedrich (1896): »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: Karl Marx/Friedrich Engels Werke. Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 259–307, S.274.
8 Marx, Karl: »Texte zu Methode und Praxis II. Pariser Manuskripte 1844«, S. 75.