Von Lutz Holzinger (2.5.2011)
Von der Verbandsdemokratie zur Lobbydiktatur
Ernst Strasser ist schon jetzt die Auszeichnung als Dolm des Jahres sicher. Verdienstvoll ist am Fehltritt des ehemaligen Innenministers der Beweis, dass hierzulande die Verbandsdemokratie vom Diktat der Konzerne abgelöst wurde.
Österreich ist bekanntlich ein kleines Land mit wenig wirklich potenten Unternehmern. Vor dem 2. Weltkrieg gab in der Großindustrie das deutsche Kapital den Ton an. Als es nach der Befreiung aus gutem Grund enteignet werden musste, war mangels Kapitalmasse keine Alternative zur Verstaatlichung erkennbar. Der hohe Staatsanteil am Wirtschaftsgeschehen förderte die Entwicklung der Sozialpartnerschaft bzw. der Verbandsdemokratie, die im Wesentlichen auf den Konsensbemühungen der gesetzlich verankerten Interessenvertretungen (Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer und Arbeiterkammer) sowie den Vereinen ÖGB und Industriellenvereinigung beruht(e). Sie nahmen dem Nationalrat lange Zeit die Mühe der Gesetzgebung in nahezu allen Wirtschafts- und Sozialfragen ab.
Weichenstellung durch Privatisierung
Dass mit der radikalen Privatisierung nicht nur der Verstaatlichten, sondern nahezu sämtlicher Staatsbetriebe eine massive Änderung der politischen Spielregeln einhergehen musste, blieb zunächst weitgehend unerkannt. In der »Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft« fand sich 2007 (Heft 4) ein Schwerpunkt zu diesem Thema. Im Editorial hieß es: »War politische Interessenvertretung in Österreich lange Zeit den sozialpartnerschaftlichen Verbänden vorbehalten, hat in den letzten Jahrzehnten eine Pluralisierung der AkteurInnen stattgefunden … Die Diversifizierung der AkteurInnen, die professionell Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse suchen, hat auch politikwissenschaftliche Bedeutung, denn es bedeutet eine Veränderung der Interessenvermittlungsstrukturen und es stellt die privilegierte Partizipation der österreichischen Sozialpartner in Frage. Korporatistische Beziehungen zwischen staatlichen und privaten AkteurInnen brechen zunehmend auf, neue private AkteurInnen in Form von Firmen-Lobbyisten oder Politikberatungs-Agenturen sind auf den Plan getreten, und die Art der Interaktion zwischen öffentlichen und privaten AkteurInnen scheint sich zu verändern.«
Diese Einschätzung bedarf heute keiner Beweiskette. Im Nachrichtenmagazin »profil« ist Ausgabe für Ausgabe nachzulesen, wie vor allem zur Zeit der schwarz-blauen Koalition von Lobbyisten massiv interveniert wurde, um Geldströme in die richtige (private) Richtung zu lenken. Brechts Bonmot, wonach eine Bankraub nichts sei gegen die Gründung einer Bank, lässt sich auch auf den Lobbyismus übertragen. Was sind Strassers schmutzige Geschäfte gegen die Machtfülle von Raiffeisen bei der Durchsetzung seiner, d. h. der Interessen des mittlerweile mit Abstand größten heimischen Konzerns? Denn der Raiffeisenverband hat heimlich, still und leise die Brosamen der Entstaatlichung aufgelesen und sich in die führende ökonomische Position in der Alpenrepublik gebracht. Lobbyismus ist für ein mit einem Sonderrecht ausgestattetes Unternehmen nicht erforderlich, zumal die politische Créme des Landes antritt, wenn Generalanwalt Christian Konrad zum Sauschädelessen lädt.
Siegeszug nach Dollfuß-Rezept
Die Gibelkreuzler befinden sich aufgrund der von Engelbert Dollfuß als Raiffeisensekretär in Niederösterreich ersonnen Dreifaltigkeit von Landwirtschaftskammer, Bauernbund und Genossenschaft (mit dem Geld-, Lagerhaus- sowie Milch-, Getreide- und Vieh-Verwertungssektor plus mehr als 1.000 Beteiligungen in Industrie und Medien) in der komfortablen Lage, in allen politischen Entscheidungsgremien des Landes durch eigene Vertrauensleute vertreten zu sein.
Beweise gefällig? In der Bundesregierung ist die Bauernspitze mit Vizekanzler, Finanzminister und ÖVP-Chef Josef Pröll sowie Landwirtschaftsminister Nikolaus Berlakovich präsent. Von Neffen des gleichnamigen Landeshauptmanns heißt es übrigens, dass er analog zu Angela Merkel, die sich das Bankenrettungspaket vom Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, diktieren ließ, sein Ohr dem damaligen Generaldirektor der Raiffeisen Zentralbank, Walter Rothensteiner, geliehen hat.
Bauernbund, Landwirtschaftskammer- und Raiffeisen-Funktionäre sind im Nationalrat massiv präsent. Konkret handelt es sich um Bauernbund-Präsident Franz Grillitsch sowie um Hermann Schultes und Franz Eßl, den Präsidenten der niederösterreichischen bzw. Salzburger Landwirtschaftskammer. Ebenfalls aus der Landwirtschaftskammer kommt VP-Abgeordneter Hermann Gahr. Dieser Truppe wird von den Raiffeisenleuten Ferdinand (Ferry) Maier (Generalsekretär), Jakob Auer (Aufsichtsratspräsident der Landesbank OÖ) und Karl Donabauer (Raiffeisen NÖ) mehr als Fraktionsstärke verpasst. Zusätzlich verstärkt wird der »Klub« durch Bundesbäuerin Anna Höllerer und drei weitere Mandatare aus Niederösterreich.
Gesegnet mit Mitgliedern der bäuerlichen Dreifaltigkeit, die kein Herz für Kleinbauern hat, sind ferner die Landesregierungen und Landtage. In Niederösterreich befinden sich Bauernbund und mit ihm indirekt Landwirtschaftskammer und Raiffeisen-Organisation unmittelbar an den Schalthebeln der Macht: Vom Agrarierbund der ÖVP wird nicht nur Landeshauptmann Erwin Pröll, sondern auch Agrarlandesrat Stephan Pernkopf gestellt, der seine Karriere als Büroleiter von Josef Pröll in seiner Zeit als Landwirtschaftsminister gestartet hat. Im dortigen Landtag stellt der Bauernbund laut Eigendefinition »aus Liebe zum Land« folgende elf Abgeordnete: Josef Edlinger, Franz Grandl, Hermann Haller, Marianne Lembacher, Franz Mold, Karl Moser, Hans Penz (gleichzeitig 1. Präsident des Landtags), Andreas Pum, Manfred Schutz, Anton Kasser und Josef Balber (Reihenfolge nach der Homepage des niederösterreichischen Bauernbundes). Dazu kommen neben den beiden Prölls die sechs Nationalratsabgeordneten Josef Donabauer, Josef Höfinger, Anna Höllerer, Erwin Hornec, Hermann Schultes und Johann Schmuckenschlager sowie die drei Bundesräte Martina Diesner-Wais, Friedrich Hensler und Martin Preineder.
Verankerung bringt Steuernachlass
In dieser Tonart geht es weiter quer durch den Gemüsegarten der gesamten Republik. Außer in Wien ist die Großagrarier-Lobby über den Posten des Agrarlandesrates in jeder Landesregierung und über Bauernbund-Mandate in Relation zum Bevölkerungsanteil der Bauernschaft überproportional in den Landtagen vertreten. Einzig und allein in Kärnten nimmt mangels Masse in der Landesregierung mit ÖVP-Landesobmann Josef Martinz ein Wirtschaftsbündler die Landwirtschafts-Agenden wahr.
Die Definition der Dreifaltigkeit von Bauernbund, Landwirtschaftskammer und Raiffeisen sowie die Berufung auf Dollfuß als ihren Architekten stammten aus einer Jubelschrift der Genossenschaft zu ihrem 100-jährigen Bestehen. In diesem Zeitraum und danach hat sie einen bemerkenswerten Aufstieg von einer bäuerlichen Selbsthilfeorganisation zum mit Abstand größten und mächtigsten Wirtschaftkonglomerat Österreichs geschafft.
Wenn Hans Weiss im »Schwarzbuch Landwirtschaft« unter Berufung auf die Arbeiterkammer nachweist, dass die Steuerquote der Raiffeisen-Landesbanken bei überbordenden Profiten bescheidene ein Prozent ausmacht, liegt auf der Hand, dass die unmittelbare Interessenvertretung weit besser wirkt als der Umweg über fragwürdige Lobbyisten, die von außen in die Politik hineinzuregieren versuchen.
Volksstimme, Mai 2011