KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Das Ende von Belgien

(20.12.2007)

Keine Regierung, keine Zukunft? Flamen und Wallonen sind zerstrittener denn je. Eine Sezession rückt näher. Warum auch nicht? Die Nationalstaaten müssen nicht ewig halten. – Seit einem halben Jahr hat Belgien keine gewählte Regierung. Nein: Das Land hat keineswegs keine funktionierende Regierung, sondern mindestens drei. Wenn es in Deutschland keine gesamtbelgische Tourismusbehörde mehr gibt, sondern stattdessen flämische und wallonische Fremdenverkeh­rsbüros öffnen; wenn Flandern einen Außenminister bekommt; wenn Erziehung, Wirtschaftsförde­rung, Raumplanung, Forschung komplett voneinander abgekoppelt werden dann hat diese „Föderalisierung“ den Zentralstaat von innen so weit ausgehöhlt, dass nur mehr eine leere Hülle übrig blieb.

Die Geschichte Belgiens war seit der Staatsgründung im Jahr 1830 von Spott und Ironie begleitet. Marx, im Brüsseler Exil, sah in der Auferstehung der katholischhab­sburgischen Niederlande die erste Staatsbildung durch kapitalistische Kräfte. In der Tat wuchs im Zusammenspiel der heute noch mächtigen Aktiengesellschaft „Société Générale“, einiger frankophoner Industriekapitäne, der Kohlegruben des Hennegau, des Stahlreviers Lüttich und des Seehafens Antwerpen ein Musterland der industriellen Moderne heran. Der Name des Staates wurde von Cäsars „Gallischem Krieg“ entlehnt. Und den Monarchen bestellte man, damit das Land auf britischen Wunsch keine französische Dépendance werde, aus dem anglophilen Geschlecht der Sachsen-Coburg – wie aus dem Versandkatalog.

Es war ein kleiner Kreis reicher Kulturfranzosen, die sich nach Napoleons Hegemonie nicht in den zentralistischen Niederlanden wieder fanden und Belgien als lukratives Kunstprodukt erschufen. Dass im Land die Bevölkerung mehrheitlich ein ländliches Niederländisch sprach, wurde in Industrie und Klerus, Militär und Schule als folkloristisches Element abgetan, das bald verschwinden würde. Brüssel, aber auch das Brabanter Umland oder westflämische Gebiete rund um Moescroen büßten so mit der Zeit ihre Sprache zugunsten des Normfranzösisch ein. Dass die restlichen Flamen sich dennoch kulturell behauptet haben, wurde der Schlüssel zur staatlichen Spaltung.

Sire, Belgier gibt es nicht

Die einträgliche Scharnierstellung zwischen französischer und deutscher Großmacht, bereichert noch um die gewaltigen Profite aus dem blutigen Kolonialreich Kongo, hatte Belgien zwar gedeihen lassen, daran änderten auch die Verluste der beiden Weltkriege nichts, in denen die Deutschen den kleineren Nachbarn schwer verheerten. Weil im Ersten Weltkrieg flämische Bauernsoldaten aber die Befehle des rein frankophonen Offizierskorps nicht verstanden, kam es zur „Vlaamse Beweging“, die bei Veteranentreffen und Schulungen, mit Parteien und Vereinen das Recht auf Gerichtsbarkeit, höhere Schule und Parlament in niederländischer Sprache forderte. Anders als in Resteuropa geriet die Revolte von 1968 dabei zur beinahe gewaltsamen Auseinandersetzung gegen die Französisierung der Universität Löwen. Weil die Belgier jedoch ihre Dispute nicht mit Gewalt lösen wollten, kam es zur Sprachteilung: in Kasernen und Bibliotheken, Kindergärten und Fernsehsendern. Einzig das Königshaus und die Spitzenpolitiker wurden im Prinzip als zweisprachige Institutionen über die Grenze beibehalten.

Brüssel, eine flämische Stadt mit französischer Sprachmehrheit und einer herrschenden Elite aus englischsprachigen Euro und Natokraten, bekam einen Sonderstatus. Die Sprachgrenze entstand dabei erst spät; das heutige Flandern ist ein reines Verwaltungsprodukt, denn ursprünglich reichten die Kerngebiete Belgiens Brabant, Hennegau, Limburg, das Bistum Lüttich, sogar die historische Grafschaft Flandern, von der Frankreich einen gehörigen Happen annektierte über alle linguistischen Trennlinien hinweg. Nach der Krise von Stahl und Kohle und dem Wirtschaftsboom flämischer Kleinbetriebe alimentiert die flämische Mehrheit von knapp sechzig Prozent über die gemeinsamen Renten und Sozialkassen eine frankophone Minderheit.

Die Flamen wollen ihren Wählern Geld sparen und auch Sozial und Rentenkasse trennen; die Wallonen wollen weiter kassieren und verkaufen ihre Haut so teuer wie möglich, gerade weil ihre Region aus eigener Kraft gar nicht lebensfähig ist. Während wallonische Politiker kein ausreichendes Niederländisch sprechen und ihre flämischen Widerparte nicht mehr französisch parlieren mögen, muss man sich über die soundso vielste Staatsreform jetzt zuweilen gar auf Englisch unterhalten. Der sprichwörtliche Abgesang auf die nationale Gemeinsamkeit datiert aber bereits auf das Jahr 1912, da der wallonische Sozialist Jules Destrée seinem König die Worte „Sire, il n'y a pas des Belges!“ ins Stammbuch schrieb. Und es bleibt nur eine Frage der Zeit, bis es heißt: Il n'y pas de Belgique.

Der landestypische Kompromiss, der bei den Verhandlungen notgedrungen und bezeichnenderweise unter Federführung des abgewählten Premiers Guy Verhofstadt erzielt werden wird, dürfte auch der letzte sein. Die flämischen Eliten, vor allem in der Wirtschaft, sind nicht mehr willens, die Wallonen weiter auszuhalten und dafür noch den kulturellen Hochmut der Frankophonen zu erdulden. Zwar spricht sich nur eine Minderheit von weniger als zwanzig Prozent der Belgier für eine sofortige Teilung aus, doch dürfte die Spaltung auf mittlere Sicht gar nicht mehr zu verhindern sein, wenn auch noch die letzten finanziellen Nabelschnüre gekappt werden. Während die nostalgische Mode des Flaggens der belgischen Trikolore vorwiegend auf Wallonen zurückgeht, wird die Abwicklung Belgiens auf die Fragen hinaus laufen, was mit der Stadt Brüssel wahrscheinlich als europäisches Washington D. C., was mit dem Königshaus vielleicht in Personalunion über die getrennten Landesteile hinweg, was vor allem mit der maroden Wallonie Frankreich will sie nicht, allein überleben kann sie nicht geschehen soll.

Chronik einer künftigen Abwicklung

Flämische Politiker führen das Land Schritt für Schritt an diese Trennung heran, und es hat den Anschein, als würden ihre wallonischen Widersacher das immer noch nicht recht mitbekommen. Flamen wie der bekennende Autonomist Bart De Wever, der Rechtskonservative Filip De Winter, aber auch führende Christdemokraten und Liberale, die keinen faulen Kompromiss mehr mit ihren wallonischen Parteifreunden erreichen wollen, rechnen Tag für Tag genüsslich den jährlichen Milliardentransfer Richtung Wallonie vor, beten beruhigend die Liste blühender europäischer Kleinstaaten von Luxemburg über Irland und Estland, Lettland bis Dänemark (alle kleiner als Flandern) herunter und spotten in fließendem Französisch über die vermeintliche sprachliche Beschränktheit ihrer wallonischen Noch-Landsleute.

Oder sie provozieren gezielt die Wallonen bis aufs Blut, wie es Yves Leterme früherer flämischer Ministerpräsident und starker Mann hinter der Krise soeben bühnenreif vormachte. Er verglich das frankophile Staatsfernsehen RTBF mit dem berüchtigten „Radio Mille Collines“, das während des Genozids in Ruanda die Menschen zum Morden aufgerufen hatte. Während sich die wallonische Elite noch über solche Bosheiten echauffiert, haben die Flamen das Land wieder einen Zentimeter weiter gespalten. Ohnehin haben sich die begabteren Politiker der jüngeren Generation längst für Karrieren auf regionaler oder europäischer Ebene also dort, wo die Kompetenzen sind entschieden. Wer möchte schon seine besten Jahre damit verbringen, ein überlebtes Staatswesen abzuwickeln? Aus deutscher Perspektive zeigt der Verfall Belgiens, dass eine Nation mit eingebautem Wohlstandstransfer nur schwer überlebt. Es wird sich auch bei uns erweisen, ob kommende Generationen von Wählern weiter großzügig in die neuen Bundesländer à fonds perdu pumpen wollen oder sich für sparsamere Regionalmodelle entscheiden.

Dass der Nationalstaat permanent durch die Administration des europäischen Vielvölkerreiches ausgehöhlt wird und kein Modell für die Ewigkeit ist, zeigt ein kurzer Blick auf die Landkarte unseres Kontinents: Vor zwanzig Jahren hätte niemand mit dem Entstehen von neuen Nationen wie Slowenien, Lettland, Slowakei, Estland, Ukraine, Kroatien gerechnet. Dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, zeigt die noch laufende Staatswerdung von Mazedonien, Montenegro, des Kosovo. Wer möchte darauf wetten, dass sich nicht bald auch im Westen neue Staaten bilden: Katalonien, Schottland, Südtirol … Diese wohlhabenden Entitäten, denen der Nationalstaat des vorigen Jahrhunderts zu eng wird, eint der Wille, nach dem Loswerden der Zentralmacht und einer angepeilten „Unabhängigkeit“ schnellstmöglich der EU beizutreten. Also auf nach Brüssel! Wahrscheinlich werden die Politiker kommender Nationen dort bald nicht mehr vom belgischen Außenminister empfangen, sondern vom flämischen.

Quelle: Dirk Schürmer – Frankfurter Allgemeine, 14.12.2007

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