Im Jahr 1932 waren zwei frühe Klassiker-Texte veröffentlicht worden, Karl Marx’ „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“ (Marx/Engels: 1968) und das Gemeinschaftswerk von Karl Marx und Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“ (Marx/Engels: 1969b). Beide ermutigten eine neue Lektüre des Gesamtwerkes und vor allem dazu, die scheinbar unentrinnbare Alternative Orthodoxie/Revisionismus hinter sich zu lassen. Eine durchaus ähnliche Wirkung ging 1951 von der Veröffentlichung der zwischen 1929 und 1935 verfassten Gefängnishefte Antonio Gramscis aus, die eine Perspektive öffneten, aus der sich die Orthodoxie in ihrer sozialdemokratischen wie marxistisch-leninistischen Variante vom Inneren heraus, in Frage stellen ließ. Anfang der 30er-Jahre hatte Gramsci etwa notiert: „Alle Menschen sind Intellektuelle, könnte man sagen; aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.“ (Gramsci 1980: 226)*
* Die HerausgeberInnen des 1980 in Leipzig erschienen kleinen Bändchens
„Antonio Gramsci. Zu Politik, Geschichte und Kultur“ versäumten es nicht, in einer Fußnote auf einen Kontrast hinzuweisen: “Vergleiche dieses Kapitel über die Rolle der Intellektuellen mit den Feststellungen Lenins zur revolutionären Intelligenz in 'Was tun?', besonders im Abschnitt 2, Spontaneität der Massen und Bewusstheit der Sozialdemokratie“. (Gramsci 1980: 371). |
Wäre dem aber so, dann würde damit zwar nicht der Satz vom gesellschaftlichen Sein, das im Bewusstsein erscheine, obsolet, und auch nicht die These von dessen notwendiger Weise mystifizierenden Charakter widerlegt; da aber der durch die bürgerliche Produktionsweise hervorgerufenen Fetischismus die Menschen nicht vollständig beherrsche, sondern von ihnen widersprüchlich verarbeitet würde, müsse seine Überwindung deren selbstständige Leistzung sein. Die erkenntnistheoretische Grundlage des avantgardistischen Politikverständnisses ist damit zumindest erschüttert.
Die populäre Bildungsaufgabe der Intellektuellen und auch der politischen
Partei, die Gramsci als „kollektiven Intellektuellen“ versteht,
ließe sich nicht weiterhin mit dem mechanischen Bild vom „Hineintragen
des Bewusstseins“ in eine unbewusste Masse umschreiben, sondern bestünde
vielmehr in der Organisierung und Systematisierung eines in den Massen bereits
vorhandenen Bewusstseins, des Alltagsverstandes.
Gramsci ist kein Vertreter der Spontaneitätstheorie, der der spontanen
Alltagsphilosophie, dem „common sense“ der Menschen unkritisch gegenüberstünde.
Der grundlegende Charakter der Alltagsphilosophie ist es, „eine auseinander
fallende inkohärente, inkonsequente Weltauffassung zu sein, der Beschaffenheit
der Volksmengen entsprechend, deren Philosophie er ist. Wenn sich in der Geschichte
eine homogene gesellschaftliche Gruppe herausarbeitet, arbeitet sich auch, gegen
den Alltagsverstand eine ‚homogene’, das heißt systematische
Philosophie heraus.“
Doch müsse Homogenisierung und Systematisierung der Weltauffassungen an
Vorhandenem anknüpfen: „Im Alltagsverstand herrschen die ‚realistischen,
materialistischen’ Elemente vor, was nicht im Widerspruch steht, zum religiösen
Element, ganz im Gegenteil; aber diese Elemente sind ‚unkritisch’,
‚abergläubisch’“ Und er fügt hinzu: „ Der
'Alltagsverstand' ist (in der Literatur) auf zwei Weisen behandelt worden: 1.
er ist der Philosophie zugrundegelegt worden; 2. er ist vom Standpunkt einer
anderen Philosophie kritisiert worden; in Wirklichkeit aber bestand das Resultat
im einen wie im anderen Fall darin, einen bestimmten ‚Alltagsverstand’
zu überwinden, um daraus einen anderen zur Weltauffassung der führenden
Gruppe besser passenden zu schaffen.“ (Gramsci 1993: 1039 f.)
Nicht um die Abwertung theoretischer Auseinandersetzung geht es also, sondern
um eine präzisere Bestimmung ihres Inhalts und ihrer Funktion. Gramsci
erweist sich auch in seinen unorthodoxen Ansätzen als ein Marxist, der
der Lenin-Linie nahe steht. Philosophie als eine systematische Weltauffassung
ist bei ihm an eine führende soziale Gruppe, also eine Klasse, gebunden.
Die Fähigkeit einer Klasse zur autonomen intellektuellen Produktion, die
für das Handeln einer großen Menge von Menschen richtungweisend wird,
und die damit ihrer politischen Aktion Dauerhaftigkeit und Kohärenz zu
verleihen mag, nennt Gramsci „Hegemonie“.
Ganz in einem Leninschen Sinn notiert er „dass eine Klasse auf zweierlei
Arten herrschend ist, nämlich ‚führend’ und ‚herrschend’.
Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend
gegenüber den gegnerischen Klassen.“ (Gramsci 1991: 101) Gerade diese
organische Verknüpfung, die die Klasse als Essenz der Hegemonie erscheinen
lässt, werden Laclau/Mouffe fünf Jahrzehnte später als den „verborgenen
essentialistischen Kern, der im Denken Gramscis immer noch lebendig ist“
bezeichnen, „der der dekonstruktiven Logik der Hegemonie Schranken setzt.“
(Laclau/Mouffe 2000: 105)
Gramsci versteht unter „Hegemonie“ die praktische Fähigkeit
einer Klasse zur geistigen und moralischen Führung. Diese bilde die notwendige
Ergänzung, und bei genauerer Betrachtung, die Voraussetzung von staatlicher
Macht oder Herrschaft. Staat im „integralen Sinn“, so seine berühmte
Formel, sei „Hegemonie gepanzert mit Macht.“ (zitiert nach: Kebir
1991: 66) „In der Tat wird gerade dank der Hegemonie die Herrschaft errichtet.
So überwindet Gramsci den Begriff des Staates als bloßes Unterdrückungsinstrument
oder -maschine und auch die Vorstellung des Staats als nur normativ-ideeller
Ordnung.“ (Cerroni 1979: 89)
1917 schrieb W.I. Lenin in seinem klassischen Text, „Staat und Revolution“:
„Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur
Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, der Errichtung derjenigen
„Ordnung“, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt,
indem sie den Konflikt der Klassen dämpft.“ (Lenin 1974a: 399). Diese
Theorie wurde „geschichtsmächtig“, indem Lenin aus ihr die
Doktrin der für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft unabdingbaren
„Diktatur des Proletariats“ ableitete. (Siehe ebd. 414 ff.) und
nur wenige Wochen nach dem Erscheinen seines Büchleins im bolschewistischen
Oktoberaufstand verwirklichte. Organisierung der eigenen Kräfte, Absorption
der Eliten feindlicher Klassen, Errichtung eines Apparates der politischen Führung
– anhand dieser in politischen Kämpfen handgreiflich auftretenden
Probleme, die Gramsci in den Gefängnisheften vor allem am Beispiel des
Risorgimento abhandelt, erweise sich überdies die Wahrheit „eines
Grundsatzes historisch-politischer Forschung: es gibt keine unabhängige
Klasse von Intellektuellen, sondern jede Klasse hat ihre Intellektuellen; aber
die Intellektuellen der historisch progressiven Klassen üben eine solche
Anziehungskraft aus, dass sich ihr letztlich die Intellektuellen der anderen
Klassen unterordnen und eine Atmosphäre der Solidarität aller Intellektuellen
mit Bindungen psychologischer (Eitelkeit usw.) und häufig kastenmäßiger
(technisch-rechtlicher, korporativer) Art schaffen.“ (Gramsci 1991: 102)
Damit ordnet Gramsci die Intellektuellen einerseits den Klassen zu, positioniert
sie aber andererseits an deren Grenzen. Hegemonie muss diese Grenzen überschreiten,
und kann dies auch, indem sie diesseits und jenseits der als objektiv unterstellten
Klassenteilung der Gesellschaft verknüpfbare Elemente vorfindet. Intellektuelle
wären mithin Grenzgänger, befänden sich innerhalb wie zwischen
den Klassen.
Anders gesagt, ergänzt Hegemonie die sozialstrukturelle Teilung durch eine
in Ausdehnung und Zeit relative, fragile imaginäre Einheit. Dies werde
von den Intellektuellen im Staat verwirklicht, so Gramsci. Verstand Lenin die
Intellektuellen vor allem als die TrägerInnen jener bürgerlichen Bildung,
deren es der Arbeiterschaft ermangelte, die aber die Voraussetzung für
ihre geistige Befreiung bildet, so definiert Gramsci die Intellektuellen anhand
ihrer hegemonialen und organisierenden Funktion und spricht in diesem Zusammenhang
von den „organischen Intellektuellen“ der einen oder anderen Klasse.
Für Lenin wie für Gramsci bilden Macht und Kräfteverhältnisse
die bevorzugten Gegenstände der Politik. Damit geht es um Anziehung und
Abstoßung, um Koppelung oder Neutralisierung gesellschaftlicher Kräfte,
um Über- und Unterordnungen von Gruppierungen. Alles dies entspricht noch
einer mehr oder weniger mechanischen Auffassung des Politischen.*
* In der ihm eigenen eindringlichen pädagogischen Sprache findet
sich
diese „mechanische“ Interpretation der Hegemonie in Lenins 1905
im
Schweizer Exil verfassten Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie
in der demokratischen Revolution“: „Das Proletariat muss die
demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der
Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand der Selbstherrschaft
mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren.
Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollbringen, indem
es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich
heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und
die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren.“ (Lenin 1973: 90) |
Insoweit könnte man sich die Intellektuellen auch als ein Bedienungspersonal
an den Kupplungen denken, mittels derer sich die Hegemonie in die Gesellschaft
verteilt. Doch lässt sich mit Gramsci darüber hinaus auch die Frage
nach einer Feinstruktur dessen stellen, was da in die Gesellschaft verteilt
wird und zirkuliert, der Hegemonie selbst, das heißt nach denjenigen Eigenschaften,
die ihre organisierende und bindende Kraft ausmachen. Wir gelangen so zu einem
neuen Gegenstand, zu einer Feinanalyse des Politischen. Mit Gramsci wird nicht
nur möglich, die Gesellschaftstheorie durch eine Staatstheorie zu ergänzen,
sondern auch, die Philosophie des Politischen beträchtlich zu erweitern.
Schon in der bisherigen schematisierten und abstrakten Darstellung erweist sich
die Politik ebenso wie die Gesellschaft durch unterschiedliche und auf einander
nicht reduzierbare Logiken determiniert: einerseits durch die sozialökonomische
Stellung der verschiedenen sozialen Gruppen und den Widerstreit ihrer Interessen
und andererseits durch das geistige Ringen unterschiedlicher Kräfte um
Hegemonie. Doch ist das Problem noch viel komplexer. Einmal vorausgesetzt, es
ließen sich auf Grundlage gemeinsamer Merkmale sozialer Lagen, gemeinsame
Interessen einer größeren Zahl von Menschen ausmachen, die rechtfertigten,
diese als Klasse anzusprechen, so änderte das nichts daran, dass die Klasseninteressen
sich im Denken jedes Individuums mit anderen Gemeinschaftsinteressen (Fraueninteressen,
Interessen ethnischer Minderheiten, Interessen von Altersgruppen etc.), persönlichen
Interessen und auch ethischen wie politischen Haltungen verbänden, wodurch
sich erst eine konkrete Handlungsorientierung herstellte. Daher gibt es im Hinblick
auf das Handeln zwischen materieller sozialer Lage und Bewusstseinsprozessen
kein „einerseits“ und „andererseits“.
Einen der ambitioniertesten Versuche, dieses Problem begrifflich zu erfassen,
findet sich bei Louis Althusser : „Der Erkenntnisprozess .... vollzieht
sich gänzlich im Denken.“ (zitiert nach: Spiegel 1997: 86)
Damit steht keineswegs in Frage, wie gelegentlich unterstellt wurde, dass Bewusstseinsprozesse
sich auf Reelles, Außerbewusstes bezögen. „Die Althussersche
Fragestellung zielt nämlich darauf ab, zu erfahren, nicht ‚ob’,
sondern allein ‚wie’ das erkennende Subjekt sich die ‚reale
Welt’ aneigne: ‚ durch welchen Mechanismus der Erkenntnisprozess,
der sich gänzlich im Gedanken ereignet, die kognitive Aneignung seines
realen Objektes erzeugt (Ebd. 86f)
Der durch die Koordinaten Macht und Hegemonie gebildete politische Raum wirft
ein ähnliches Problem auf. Mögen die beiden Dimensionen des Politischen
sich in geschichtsphilosophischer Hinsicht als notwendig und ergänzend
darstellen, real historisch unterliegen sie unterschiedlichen Logiken, und in
politischen Entscheidungssituationen schließen sie sich mitunter aus.
In einer schematischen Darstellung des Gramsci’schen Begriffssystems bei
Perry Anderson zeigt sich das Problem recht deutlich:
Hegemonie |
Herrschaft |
= |
= |
Konsens |
Zwang |
= |
= |
zivile Gesellschaft |
Staat |
(Anderson 1979: 31) |
Die Reihen „Hegemonie – Konsens – zivile Gesellschaft“
einerseits und „Herrschaft – „Zwang – Staat“ andererseits,
sind untrennbar aneinander gebunden, tendieren aber dessen ungeachtet dazu,
jeweils ihren eigenen Logiken zu folgen, die sie niemals voll verwirklichen
können, weil sie aufeinander einwirken und sich wechselseitig determinieren.
Wie lässt sich diese wechselseitige Determinierung aber begrifflich fassen
und politisch handhaben? Gramsci hat zwar das Problem gestellt und auch in den
„Gefängnisheften“durch unterschiedliche Versionen in der Verwendung
seiner Schlüsselbegriffe verdeutlicht (siehe: Anderson 1979: 32 ff.). Er
hat aber nicht die Lösung hinterlassen.
Wie sollen wir uns also Gesellschaft mit ihren vielgliedrigen, wechselseitig
abhängigen und sich gegenseitig determinierenden Instanzen vorstellen?
Haben wir es, wie es etwa der orthodoxe Marxismus in Hegel’scher Tradition
unterstellt, mit expressiver Totalität zu tun, also einem komplexen Ganzen,
das von einer basal gedachten Beziehung in der Art determiniert würde,
dass jede einzelne Erscheinung – wie vermittelt auch immer – als
Ausdrucksform ein und des selben Prinzips verstanden werden kann? Gesellschaft
ließe sich so als hierarchisch, in primären, sekundären und
tertiären Widersprüchen angeordnet denken, Politik als ein Konzentrat
der Ökonomie oder Kunst und Wissenschaft als sublime Formen der Klassenauseinandersetzung
verstehen.
In einer expressiven Totalität im eigentlichen Sinn wäre es aber tautologisch
von „Hegemonie“ zu sprechen, da es sich doch immer nur um die gedankliche
Rückbeziehung der an der Oberfläche manifestierten Erscheinungen auf
das in ihnen verborgene Eigentliche und Wesentliche handeln könnte. Das
ist der klassische Fall der ent-mystifizierenden Ideologiekritik, die selbst
das irrige Bewusstsein noch mit Notwendigkeit aus den in ihm aufscheinenden
Produktionsverhältnissen herleitet. Nicht Hegemonie, sondern eine durch
Aufklärung herzustellende Homologie von Sein und Bewusstsein bilden daher
das zentrale Thema der Ideologiekritik. Auf diese Homologie läuft die Widerspiegelungstheorie
als Epistemologie hinaus, eine Epistemologie des Notwendigen!
Louis Althusser wendet sich, im Versuch den Marxismus von seiner „ideologischen
Vorgeschichte“ zu befreien – und die Basis einer erneuerten Orthodoxie
zu legen – gegen die Idee eines das Gesamtsystem regulierenden Prinzips,
einer „ursprünglichen einfachen Einheit “, wie sie in der Hegelschen
Dialektik erscheint. (Althusser 1973: 202, zitiert nach Spiegel 97: 85) Der
reife, „marxistische“ Marx, so seine These, stelle in „Das
Kapital“ ein radikales Gegenmodell der Totalität vor. Dieses sei
ihm selbst nicht einmal voll bewusst geworden, und um es in philosophischer
und methodologischer Hinsicht auf einen Begriff zu bringen, habe ihm die Lebenszeit
gefehlt.
Althusser selbst schreibt im selben Buch: „Mit welchem Begriff ist die
Determination eines Elements oder einer Struktur durch eine andere Struktur
zu denken? Genau dieses Problem hat auch Marx vor Augen, und er versucht es
genauer zu fassen, indem er die Metapher vom Wechsel der allgemeinen Beleuchtung
einführt, vom Äther, in den die Körper eingetaucht sind, von
den ständigen Modifizierungen, die hervorgerufen werden, wenn eine partikulare
Struktur, Lokalisation, Funktion und Beziehungen (mit Marx’ Worten: Verhältnisse,
Rang, Einfluss) sowie die ursprüngliche Färbung und das spezifische
Gewicht der Objekte bestimmt.“ (Althusser/Balibar 1972: 253)*
* Althusser/Balibar nehmen hier Bezug auf eine berühmte Stelle aus
den Grundrissen“. „In allen Gesellschaften ist es eine bestimmte
Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch
allen übrigen, Rang und Einfluss anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung,
worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer
Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das
spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.“
(Marx 1974: 27) |
Zur Kennzeichnung dieses Aspekts der strukturellen Kausalität führt Althusser den Begriff „Überdetermination“ ein.
Um ein mit diesem verwandten Problem, nämlich das durch die gegenseitige
Beeinflussung unterschiedlicher politischer, sozialer und pychologischer Faktoren
entstehende Auftreten spontaner Massenbewegungen geht es auch bei der von Rosa
Luxemburg 1905 geführten Kontroverse um den Massenstreik.
Luxemburgs Konzept des Massenstreiks hatte sich substantiell von der bis zu
diesem Zeitpunkt in der Sozialdemokratie geführten Debatte abgehoben. „Statt
des starren und hohlen Schemas einer auf Beschluss der höchsten Instanzen
mit Plan und Umsicht ausgeführten trockenen ‚politischen Aktion’
sehen wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich nicht
aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden lässt, das durch
tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist.“
(Luxemburg 1972: 124)
Es wäre eine Trivialisierung, wenn man dieses Argument Rosa Luxemburgs
gegen die Idee einer bewussten politischen Leitung von Massenkämpfen richten
wollte. Sie selbst schreibt: „Verlassen wir nämlich das pedantische
Schema eines künstlich von Partei und Gewerkschaft wegen kommandierten
und demonstrativen Massenstreiks…so muss offenbar die Aufgabe der Sozialdemokratie
nicht in der technischen Vorbereitung und Leitung…sondern, vor allem in
der politischen Führung der ganzen Bewegung bestehen.“ (Ebd. 146)
Nicht ob, sondern wie eine bewusste Intervention in einen durch Massenspontaneität
ausgelösten politischen Prozess erfolgen kann, ist Luxemburgs Thema. Davon
eine tatsächliche Vorstellung zu entwickeln, setzte allerdings voraus,
sich von der vorherrschenden polit-bürokratischen Pedanterie zu befreien.
Wenn es „gänzlich verkehrt ist, sich den Massenstreik als einen Akt,
eine Einzelhandlung zu denken“ (Ebd. 125), was dann: „Der Massenstreik,
wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung,
dass er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien
und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft,
seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend…Politische
und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks
und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner
Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe
– alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich,
flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von
Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt
nicht in dem Massenstreik selbst…, sondern in dem politischen und sozialen
Kräfteverhältnis der Revolution.“ (Ebd. 124) Die Eigentümlichkeit
des Massentreiks bestehe also darin, „dass das ökonomische und das
politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind. Auch darin weicht
die Wirklichkeit vom theoretischen Schema weit ab.“ (Ebd. 127)
Bei Rosa Luxemburgs Text handelt es sich nicht um ein politisches Pamphlet,
sondern um eine im Parteiauftrag durchgeführte wissenschaftliche Studie
des Massenstreiks, der als politisches Elementarereignis der russische Revolution
1905 den Stempel aufgedrückt hatte.
Nicht zufällig ist die strukturelle Ähnlichkeit des Bildes, das Rosa
Luxemburg vom Massenstreik zeichnet, mit einer Stelle aus Marx’ Grundrissen.
Geht es aber bei ihr um die politische Aktion, um „lebendiges Leben aus
Fleisch und Blut, das sich nicht aus dem großen Rahmen der Revolution
herausschneiden lässt, das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und
Dran der Revolution verbunden ist“, so bei Marx um den spröden Begriff
der „Produktionsweise“ als einer „allgemeinen Beleuchtung,
worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit
modifiziert….ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles
in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.“ In beiden Fällen geht
es aber um eine, mit einem Wort gesagt, Überdetermination, die folgt man
Akthusser und Balibar, alle sozialen Prozesse auszeichnet, was wie Rosa Luxemburg
vermerkt, in der bisherigen orthodoxen Theorie nicht abgehandelt werden könne,
weil die Wirklichkeit von dieser weit abweiche.
Luxemburg war zeitlebens eine Parteipolitikerin, und ihre Kritik an politischer
Führung richtet sich an konkrete Führungen, sie negiert nicht deren
Legitimität im Allgemeinen, sondern kritisiert die bürokratische Erstarrung.
Die epistemologische Bedeutung von Luxemburgs Konzeption besteht vor allem in
der Einsicht in die mögliche „symbolische Überdeterminierung“
einzelner Kämpfe durch andere und durch den revolutionären Aufstand
als solchem besteht, womit ein „konkreter Mechanismus für die Vereinheitlichung
dieser Kämpfe vorgeschlagen“ würde. (Ebd. 42)
Ausschlaggebend ist dabei folgendes: Für die gesamte sozialistische Orthodoxie
von Kautsky bis Lenin stellte die in den Produktionsverhältnissen a priori
fixierte Klasseneinheit die Voraussetzung für jede politische Einheit der
Klasse dar. Die Aufgabe von Partei und Gewerkschaft konnte folglich nur darin
bestehen, im (Nach-)Vollzug die politische Einheit zu organisieren.
Rosa Luxemburg stellt in ihrer Studie zum Massenstreik das Problem aber umgekehrt:
Die objektive Einheit tritt hier nicht als die Voraussetzung, sondern als das
Resultat der politischen Aktion in Erscheinung, wird damit zur subjektiven Vereinigung
in der und durch die Aktion. Die Frage so zu stellen heißt aber, statt
mit Geschichtsdeterminismus mit Überdeterminierung und Kontingenz zu kalkulieren,
und bedeutet anzuerkennen, dass es im politischen Kampf keine andere Erfolgsgewähr
gibt, als die politische Aktion, das heißt die Verknüpfung (Artikulation)
verschiedener sich überdeterminierender sozialer und politischer Widersprüche
zu einem alternativen Projekt.
Walter Baier
* Dieser Text ist Teil einer größeren Arbeit über Marxismus
und Post-Marxismus
Weitere Links und
Artikel zu Antonie Gramsci
Althusser, Louis/ Balibar, Etienne (1972): Das Kapital lesen I. Rowohlt Taschenbuch
Verlag GmbH. Reinbeck bei Hamburg
Anderson, Perry (1979) Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung. Olle
& Wolter Berlin
Cerroni, Umberto (1979): Gramsci-Lexikon. Zum Kennen- und Lesen-Lernen. VSA-Verlag,
Hamburg
Gramsci, Antonio (1980): Zu Politik, Geschichte und Kultur. Röderberg Verlag
G.m.b.H., Frankfurt am Main
Gramsci, Antonio (1991): GEFÄNGNISHEFTE. Bd.1. Argument-Verlag, Hamburg
Gramsci, Antonio (1993): GEFÄNGNISHEFTE. Bd.5. Argument-Verlag, Hamburg
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantalle (1991): Hegemonie und radikale Demokratie.
Zur Dekonstruktion de Marxismus. Passagen Verlag Ges.m.b.H., Wien
Lenin, Wladimir Iljitsch (1973): Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der bürgerlichen
Revolution, in LW, Bd.
Lenin, Wladimir Iljitsch (1974a) Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus
vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. In: LW, Bd. 25,
Dietz Verlag Berlin
Lenin, Wladimir Iljitsch (1941): Was tun? Brennende Fragen der Bewegung. Verlag
für fremdsprachige Literatur, Moskau
Luxemburg, Rosa (1972): Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: Rosa Luxemburg.
Gesammelte Werke. Band 2 (1906 bis Juni 1911). Dietz Verlag, Berlin
Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844.
In MEW, Ergänzungsband, Dietz Verlag, Berlin
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1969b): Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten
deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner,
und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: MEW Bd.3,
Dietz Verlag, Berlin
Marx, Karl (1974): Das Kapital. Erster Band. In MEW, Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin
Marx, Karl (1974a): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Dietz
Verlag, Berlin
Spiegel, Hermes (1997): Gramsci und Althusser. Eine Kritik der Altusserschen
Rezeption von Gramscis Philosophie. Argument Verlag, Berlin
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantalle (1991): Hegemonie und radikale Demokratie.
Zur Dekonstruktion de Marxismus. Passagen Verlag Ges.m.b.H., Wien