KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

"Der Kampf an drei Fronten"

Von Ernst Wimmer (18.1.1991)

Es ist ein unabdingbares Recht jeder „Gegenwart“, Fragen an die Vergangenheit, an die Geschichte, an ihre „Größen“ zu stellen, sie neu zu interpretieren. Freilich: was gefragt wird, charakterisiert die Fragenden ebenso wie das, was sie aus Erfahrungen, Fragestellungen, Erkenntnisstufen der Vergangenheit machen. Antonio Gramsci, im Jänner 1891 auf Sardinien geboren, im April 1937 als politischer Gefangener des Mussolini-Faschismus gestorben, ist zweifellos einer der „Großen“ der kommunistischen Bewegung dieses Jahrhunderts. Nicht nur wegen der Einheitlichkeit seines Lebens als Theoretiker und praktischer Politiker. Vor allem im Hinblick auf das, was bei ihm zu finden – und im Licht heutiger Erfahrungen durchdacht – für die Weiterentwicklung des Marxismus wertvoll ist.

Das gilt besonders für Zeiten der Verstörung, der Verwirrung, der Unsicherheit. Als einer der ersten Führer der kommunistischen Internationale begriff er, dass der Weg zu einer Umgestaltung der Gesellschaft kein kurzer sein wird, wie viele nach der Oktoberrevolution geglaubt hätten. Einen der Gründe dafür erblickte er in den Unterschieden zwischen Russland und den hochentwickelten kapitalistischen Ländern. Und er schloss daraus auf die Unerlässlichkeit und Kompliziertheit eines „Heranführens“ an eine Umwälzung, auf die enome Bedeutung „nationaler Rahmenbedingungen“.

Sowohl als praktischer Politiker wie als oft heuristisch verfahrender Theoretiker – insbesondere in den berühmten „Gefängnisheften“ – ging er immer wieder dieselben Fragen von verschiedensten Seiten mit unterschiedlichen Methoden an: Worin liegen die erschwärenden, die verzögernden Momente im „Westen“, die manchmal überhaupt an der Möglichkeit einer gesellschaftlichen Umwälzung zweifeln lassen? Was sind die Quellen der Stabilisierungs- und Entwicklungsfähig­keit des Kapitalismus, die Träger seiner Macht? Wo die Hebelpunkte, um sie schließlich zu stürzen?

Das beginnt mit der Untersuchung und Verwerfung der in unzähligen Varianten existierenden Theorien der Einseitigkeit – der „linksradikal“-sektiererischen, die den „Sitz der Macht“ allein in der Gewalt des Staats vermuten und den reformistischen, die die „eigentliche Machtbasis“ des Kapitals in der Vorherrschaft bürgerlicher Ideen erblicken möchten. Das äussert sich in immer neuen Versuchen, näher zu bestimmen, wie sich im Staat, im politischen System, in der „zivilen Gesellschaft“ Gewalt und Hegemonie, also Vorherrschaft, der Ideen, wie sich Zwänge und Konsens mischen, ergänzen, wie sie formiert, aufrecht erhalten, ausgebaut und zersetzt, „umgedreht“, überwunden werden können. In seiner Konzeption eines Systems von Bündnissen, der Durchsetzung zumindest von Elementen einer neuen Hegemonie als Voraussetzung für eine neue Gesellschaft sind immer wieder zwei Orientierungspunkte zu finden: gegen wen muss man unbedingt kämpfen, wenn man qualitativ Neues erreichen möchte? Und um wen muss man kämpfen, auch wenn da nicht unbedingt qualitativ Neues gefordert wird?

Der Reichtum der Gedanken Gramscis ist nur schwer zugänglich. So wie der Stil des jungen Marx von Hegel war der Gramscis, bis in seine Methodologie, durch seine Herkunft von der idealistischen Philosophie, von Benedetto Croce geprägt. Das besonders Anregende seiner „Gefängnishefte“ bedingt zugleich Vieldeutigkeit. Dass sie eben nicht für die Veröffentlichung geschrieben, nicht auf unmittelbar praktische Aufgaben hin „stimmig“ gemacht wurden, sondern verschiedene Entwicklungsmöglichke­iten gedanklich durchspielten, dabei verschiedene Erklärungsmuster probierend.

Dazu kam als weitere Komplikation die „Sklavensprache“ – der im Hinblick auf die Zensur notwendige weitgehende Verzicht auf die klassische marxistische Terminologie, das Fragmentarische, Gleichnishafte in diesen Texten. Zur Verwendung militärischer Begriffe anstelle der bei der Zensur anstössigen politischen – und sie ist charakteristisch für einige Schlüsselaussagen, etwa zu „Bewegungskrieg“ und „Stellungskrieg“ hat er selbst vermerkt, dass es sich um Denkanstösse handelt, nicht um exakte Beschreibungen.

Zuweilen wurde Gramsci zu unrecht vorgeworfen, dass bei ihm die Rolle der Gewalt, insbesondere des Staats zu kurz komme. Von entgegengesetzter Seite wurde ihm das Hirngespinst angedichtet, mit Hilfe von Mehrheiten oder Elementen einer Hegemonie die organisierte Gewalt des Kapitals so „zerstäuben“ zu können, dass sich völlig neue Verhältnisse gleichsam von selbst, ohne Wagnis einstellen. Es gibt keinerlei Deckung für derartige Vorwürfe oder Entstellungen, lediglich einen sich aus der Eigenart dieses Werks ergebenden Ansatzpunkt.

Gramsci, als einem vom Gegner zur körperlichen und geistigen Vernichtung im Gefängnis Verurteilten, konnte nie in den Sinn kommen, was manche heute für durchaus erreichbar wähnen: dem Kapitalismus seinen Antihumanismus abgewöhnen, samt und sonders wegreformieren zu können. Er verbreitete sich nicht über das, was er als selbstverständlich voraussetzte. Er konzentrierte seine Energien auf die Untersuchung dessen, was noch kaum untersucht worden war, noch viel zuwenig verstanden wurde: auf das Geflecht staaticher, halbstaatlicher, öffentlicher und „privater“ Apparate, Institutionen und Organisationen, auf den üppig wuchernden Dschungel der „Überbauten“.

Beträchtliche Schwierigkeiten für eine Nutzanwendung ergeben sich daraus, dass Gramsci dieselben Begriffe mit wechselnden Inhalten verwendet hat sie also „überdehnen“ musste. Wer seinen Begriffsapparat für das Wichtigste hält, setzt sich fast schon ausserstande, das Wesentliche, Weiterführende zu begreifen. Manche erhofften sich heute von der Kategorie „zivile Gesellschaft“ einen Universalschlüssel zu einem tieferen Verständnis der Gesellschaft. Aber eine eindeutige Definition wird man bei Gramsci vergeblich suchen. Noch mehr, noch aufschlussreicher: nach vielen Gedankenmodellen setzt er die „zivile Gesellschaft“, die er am Anfang seiner Suche dem Staat entgegengestellt hatte, mit diesem gleich. Nicht resignierend, nicht als Zurücknahme, bloss vevsuchsweise, die Erfahrung im Blickpunkt, dass irnmer engere Verzahnungen zwischen Staat, politischem System und ziviler Gesellschaft es ungemein erschweren, Unterschiede, Trennlinien und Gegensätze in ihnen zu erfassen. Gramsci hat sich keineswegs „im Labyrinth seiner Gefängnishefte verirrt“. Er hat seine ungeheure Energie unter ungeheuerlichen Bedingungen, seine analytische Schärfe auf immer neue Punkte gerichtet, wobei Unschärfen, Disproportionen zu anderen Punkten entstanden.

Jahrzehnte nach Gramscis Tod erklärte sein Kampfgefährte Togliatti: „Die wissenschaftliche Erkenntnis, zu der uns das Werk Gramscis führt, ist also nicht die einer Wissenschaft, mit deren Hilfe man die Aufgaben des unmittelbaren Kampfs umgehen kann, indem man auf sie verzichtet, sie aufschiebt oder auf sie herabblickt…“ Gramsci hat nicht „die Anatomie“ der bürgerlichen Gesellschaft geschrieben. Schon gar nicht, unter Einbeziehung der Ökonomie, die wohl der gewichtigste Körperteil der „bürgerlichen Gesellschaft“ in ihrem ursprünglichen, umfassendsten Sinn ist. Aber er hat einige der Grundaufgaben umrissen, die es erst zu lösen gilt, will man beweisen, dass die Potenzen des Marxismus nicht erschöpft sind, dass er als „Philosophie der Praxis“ unentbehrlich ist.

Quelle

Ernst Wimmer – anläßlich des hundersten Geburtstags A.Gramscis eine Würdigung im „Weg und Ziel“, 1991.

Als auch international beachteter marxistischer Theoretiker befaßte sich Ernst Wimmer viele Jahre mit dem theoretischen Erbe Antonio Gramscis, dem er einige seiner letzten Artikel in „Weg und Ziel“ widmete, zu einer Zeit als der europaische „Realsozialismus“ im Untergang begriffen war und Wimmer selbst, obwohl schon durch seine Krankheit gezeichnet, viele Grundannahmen marxistische Theorie und damit auch seine eigene Arbeit einer kritischen Prüfung unterzog.

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