KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Zu Gramsci, Luxemburg und Althusser

Von Walter Baier (27.4.2007)

Im Jahr 1932 waren zwei frühe Klassiker-Texte veröffentlicht worden, Karl Marx’ „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“ (Marx/Engels: 1968) und das Gemeinschaftswerk von Karl Marx und Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“ (Marx/Engels: 1969b). Beide ermutigten eine neue Lektüre des Gesamtwerkes und vor allem dazu, die scheinbar unentrinnbare Alternative Orthodoxie/Re­visionismus hinter sich zu lassen. Eine durchaus ähnliche Wirkung ging 1951 von der Veröffentlichung der zwischen 1929 und 1935 verfassten Gefängnishefte Antonio Gramscis aus, die eine Perspektive öffneten, aus der sich die Orthodoxie in ihrer sozialdemokra­tischen wie marxistisch-leninistischen Variante vom Inneren heraus, in Frage stellen ließ. Anfang der 30er-Jahre hatte Gramsci etwa notiert: „Alle Menschen sind Intellektuelle, könnte man sagen; aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.“ (Gramsci 1980: 226) (*1)

Wäre dem aber so, dann würde damit zwar nicht der Satz vom gesellschaftlichen Sein, das im Bewusstsein erscheine, obsolet, und auch nicht die These von dessen notwendiger Weise mystifizierenden Charakter widerlegt; da aber der durch die bürgerliche Produktionsweise hervorgerufenen Fetischismus die Menschen nicht vollständig beherrsche, sondern von ihnen widersprüchlich verarbeitet würde, müsse seine Überwindung deren selbstständige Leistzung sein. Die erkenntnisthe­oretische Grundlage des avantgardistischen Politikverständnis­ses ist damit zumindest erschüttert.

Alle sind Intellektuelle …

Die populäre Bildungsaufgabe der Intellektuellen und auch der politischen Partei, die Gramsci als „kollektiven Intellektuellen“ versteht, ließe sich nicht weiterhin mit dem mechanischen Bild vom „Hineintragen des Bewusstseins“ in eine unbewusste Masse umschreiben, sondern bestünde vielmehr in der Organisierung und Systematisierung eines in den Massen bereits vorhandenen Bewusstseins, des Alltagsverstan­des.??Gramsci ist kein Vertreter der Spontaneitätsthe­orie, der der spontanen Alltagsphilosophie, dem „common sense“ der Menschen unkritisch gegenüberstünde. Der grundlegende Charakter der Alltagsphilosophie ist es, „eine auseinander fallende inkohärente, inkonsequente Weltauffassung zu sein, der Beschaffenheit der Volksmengen entsprechend, deren Philosophie er ist. Wenn sich in der Geschichte eine homogene gesellschaftliche Gruppe herausarbeitet, arbeitet sich auch, gegen den Alltagsverstand eine ‚homogene’, das heißt systematische Philosophie heraus.“??Doch müsse Homogenisierung und Systematisierung der Weltauffassungen an Vorhandenem anknüpfen: „Im Alltagsverstand herrschen die ‚realistischen, materialistischen’ Elemente vor, was nicht im Widerspruch steht, zum religiösen Element, ganz im Gegenteil; aber diese Elemente sind ‚unkritisch’, ‚abergläubisch’“ Und er fügt hinzu: „ Der ‚Alltagsverstand‘ ist (in der Literatur) auf zwei Weisen behandelt worden: 1. er ist der Philosophie zugrundegelegt worden; 2. er ist vom Standpunkt einer anderen Philosophie kritisiert worden; in Wirklichkeit aber bestand das Resultat im einen wie im anderen Fall darin, einen bestimmten ‚Alltagsverstand’ zu überwinden, um daraus einen anderen zur Weltauffassung der führenden Gruppe besser passenden zu schaffen.“ (Gramsci 1993: 1039 f.) ??Nicht um die Abwertung theoretischer Auseinandersetzung geht es also, sondern um eine präzisere Bestimmung ihres Inhalts und ihrer Funktion. Gramsci erweist sich auch in seinen unorthodoxen Ansätzen als ein Marxist, der der Lenin-Linie nahe steht. Philosophie als eine systematische Weltauffassung ist bei ihm an eine führende soziale Gruppe, also eine Klasse, gebunden. Die Fähigkeit einer Klasse zur autonomen intellektuellen Produktion, die für das Handeln einer großen Menge von Menschen richtungweisend wird, und die damit ihrer politischen Aktion Dauerhaftigkeit und Kohärenz zu verleihen mag, nennt Gramsci „Hegemonie“.

Hegemonie

Ganz in einem Leninschen Sinn notiert er „dass eine Klasse auf zweierlei Arten herrschend ist, nämlich ‚führend’ und ‚herrschend’. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen.“ (Gramsci 1991: 101) Gerade diese organische Verknüpfung, die die Klasse als Essenz der Hegemonie erscheinen lässt, werden Laclau/Mouffe fünf Jahrzehnte später als den „verborgenen essentialistischen Kern, der im Denken Gramscis immer noch lebendig ist“ bezeichnen, „der der dekonstruktiven Logik der Hegemonie Schranken setzt.“ (Laclau/Mouffe 2000: 105)??Gramsci versteht unter „Hegemonie“ die praktische Fähigkeit einer Klasse zur geistigen und moralischen Führung. Diese bilde die notwendige Ergänzung, und bei genauerer Betrachtung, die Voraussetzung von staatlicher Macht oder Herrschaft. Staat im „integralen Sinn“, so seine berühmte Formel, sei „Hegemonie gepanzert mit Macht.“ (zitiert nach: Kebir 1991: 66) „In der Tat wird gerade dank der Hegemonie die Herrschaft errichtet. So überwindet Gramsci den Begriff des Staates als bloßes Unterdrückungsin­strument oder -maschine und auch die Vorstellung des Staats als nur normativ-ideeller Ordnung.“ (Cerroni 1979: 89)??1917 schrieb W.I. Lenin in seinem klassischen Text, „Staat und Revolution“: „Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, der Errichtung derjenigen „Ordnung“, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft.“ (Lenin 1974a: 399). Diese Theorie wurde „geschichtsmächt­ig“, indem Lenin aus ihr die Doktrin der für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft unabdingbaren „Diktatur des Proletariats“ ableitete. (Siehe ebd. 414 ff.) und nur wenige Wochen nach dem Erscheinen seines Büchleins im bolschewistischen Oktoberaufstand verwirklichte. Organisierung der eigenen Kräfte, Absorption der Eliten feindlicher Klassen, Errichtung eines Apparates der politischen Führung – anhand dieser in politischen Kämpfen handgreiflich auftretenden Probleme, die Gramsci in den Gefängnisheften vor allem am Beispiel des Risorgimento abhandelt, erweise sich überdies die Wahrheit „eines Grundsatzes historisch-politischer Forschung: es gibt keine unabhängige Klasse von Intellektuellen, sondern jede Klasse hat ihre Intellektuellen; aber die Intellektuellen der historisch progressiven Klassen üben eine solche Anziehungskraft aus, dass sich ihr letztlich die Intellektuellen der anderen Klassen unterordnen und eine Atmosphäre der Solidarität aller Intellektuellen mit Bindungen psychologischer (Eitelkeit usw.) und häufig kastenmäßiger (technisch-rechtlicher, korporativer) Art schaffen.“ (Gramsci 1991: 102) Damit ordnet Gramsci die Intellektuellen einerseits den Klassen zu, positioniert sie aber andererseits an deren Grenzen. Hegemonie muss diese Grenzen überschreiten, und kann dies auch, indem sie diesseits und jenseits der als objektiv unterstellten Klassenteilung der Gesellschaft verknüpfbare Elemente vorfindet. Intellektuelle wären mithin Grenzgänger, befänden sich innerhalb wie zwischen den Klassen. ??Anders gesagt, ergänzt Hegemonie die sozialstrukturelle Teilung durch eine in Ausdehnung und Zeit relative, fragile imaginäre Einheit. Dies werde von den Intellektuellen im Staat verwirklicht, so Gramsci. Verstand Lenin die Intellektuellen vor allem als die TrägerInnen jener bürgerlichen Bildung, deren es der Arbeiterschaft ermangelte, die aber die Voraussetzung für ihre geistige Befreiung bildet, so definiert Gramsci die Intellektuellen anhand ihrer hegemonialen und organisierenden Funktion und spricht in diesem Zusammenhang von den „organischen Intellektuellen“ der einen oder anderen Klasse. ??Für Lenin wie für Gramsci bilden Macht und Kräfteverhältnisse die bevorzugten Gegenstände der Politik. Damit geht es um Anziehung und Abstoßung, um Koppelung oder Neutralisierung gesellschaftlicher Kräfte, um Über- und Unterordnungen von Gruppierungen. Alles dies entspricht noch einer mehr oder weniger mechanischen Auffassung des Politischen.*2

Insoweit könnte man sich die Intellektuellen auch als ein Bedienungspersonal an den Kupplungen denken, mittels derer sich die Hegemonie in die Gesellschaft verteilt. Doch lässt sich mit Gramsci darüber hinaus auch die Frage nach einer Feinstruktur dessen stellen, was da in die Gesellschaft verteilt wird und zirkuliert, der Hegemonie selbst, das heißt nach denjenigen Eigenschaften, die ihre organisierende und bindende Kraft ausmachen. Wir gelangen so zu einem neuen Gegenstand, zu einer Feinanalyse des Politischen. Mit Gramsci wird nicht nur möglich, die Gesellschaftsthe­orie durch eine Staatstheorie zu ergänzen, sondern auch, die Philosophie des Politischen beträchtlich zu erweitern.??Schon in der bisherigen schematisierten und abstrakten Darstellung erweist sich die Politik ebenso wie die Gesellschaft durch unterschiedliche und auf einander nicht reduzierbare Logiken determiniert: einerseits durch die sozialökonomische Stellung der verschiedenen sozialen Gruppen und den Widerstreit ihrer Interessen und andererseits durch das geistige Ringen unterschiedlicher Kräfte um Hegemonie. Doch ist das Problem noch viel komplexer. Einmal vorausgesetzt, es ließen sich auf Grundlage gemeinsamer Merkmale sozialer Lagen, gemeinsame Interessen einer größeren Zahl von Menschen ausmachen, die rechtfertigten, diese als Klasse anzusprechen, so änderte das nichts daran, dass die Klasseninteressen sich im Denken jedes Individuums mit anderen Gemeinschaftsin­teressen (Fraueninteressen, Interessen ethnischer Minderheiten, Interessen von Altersgruppen etc.), persönlichen Interessen und auch ethischen wie politischen Haltungen verbänden, wodurch sich erst eine konkrete Handlungsorien­tierung herstellte. Daher gibt es im Hinblick auf das Handeln zwischen materieller sozialer Lage und Bewusstseinspro­zessen kein „einerseits“ und „andererseits“.

Was heißt „Überdetermina­tion“?

Einen der ambitioniertesten Versuche, dieses Problem begrifflich zu erfassen, findet sich bei Louis Althusser : „Der Erkenntnisprozess … vollzieht sich gänzlich im Denken.“ (zitiert nach: Spiegel 1997: 86)??Damit steht keineswegs in Frage, wie gelegentlich unterstellt wurde, dass Bewusstseinspro­zesse sich auf Reelles, Außerbewusstes bezögen. „Die Althussersche Fragestellung zielt nämlich darauf ab, zu erfahren, nicht ‚ob’, sondern allein ‚wie’ das erkennende Subjekt sich die ‚reale Welt’ aneigne: ‚ durch welchen Mechanismus der Erkenntnisprozess, der sich gänzlich im Gedanken ereignet, die kognitive Aneignung seines realen Objektes erzeugt (Ebd. 86f)??Der durch die Koordinaten Macht und Hegemonie gebildete politische Raum wirft ein ähnliches Problem auf. Mögen die beiden Dimensionen des Politischen sich in geschichtsphi­losophischer Hinsicht als notwendig und ergänzend darstellen, real historisch unterliegen sie unterschiedlichen Logiken, und in politischen Entscheidungssi­tuationen schließen sie sich mitunter aus. In einer schematischen Darstellung des Gramsci’schen Begriffssystems bei Perry Anderson zeigt sich das Problem recht deutlich:

Hegemonie = Konsens = zivile Gesellschaft

Herrschaft = Zwang = Staat

Die Reihen „Hegemonie – Konsens – zivile Gesellschaft“ einerseits und „Herrschaft – „Zwang – Staat“ andererseits, sind untrennbar aneinander gebunden, tendieren aber dessen ungeachtet dazu, jeweils ihren eigenen Logiken zu folgen, die sie niemals voll verwirklichen können, weil sie aufeinander einwirken und sich wechselseitig determinieren.??Wie lässt sich diese wechselseitige Determinierung aber begrifflich fassen und politisch handhaben? Gramsci hat zwar das Problem gestellt und auch in den „Gefängnishef­ten“durch unterschiedliche Versionen in der Verwendung seiner Schlüsselbegriffe verdeutlicht (siehe: Anderson 1979: 32 ff.). Er hat aber nicht die Lösung hinterlassen.

Wie sollen wir uns also Gesellschaft mit ihren vielgliedrigen, wechselseitig abhängigen und sich gegenseitig determinierenden Instanzen vorstellen? Haben wir es, wie es etwa der orthodoxe Marxismus in Hegel’scher Tradition unterstellt, mit expressiver Totalität zu tun, also einem komplexen Ganzen, das von einer basal gedachten Beziehung in der Art determiniert würde, dass jede einzelne Erscheinung – wie vermittelt auch immer – als Ausdrucksform ein und des selben Prinzips verstanden werden kann? Gesellschaft ließe sich so als hierarchisch, in primären, sekundären und tertiären Widersprüchen angeordnet denken, Politik als ein Konzentrat der Ökonomie oder Kunst und Wissenschaft als sublime Formen der Klassenauseinan­dersetzung verstehen.??In einer expressiven Totalität im eigentlichen Sinn wäre es aber tautologisch von „Hegemonie“ zu sprechen, da es sich doch immer nur um die gedankliche Rückbeziehung der an der Oberfläche manifestierten Erscheinungen auf das in ihnen verborgene Eigentliche und Wesentliche handeln könnte. Das ist der klassische Fall der ent-mystifizierenden Ideologiekritik, die selbst das irrige Bewusstsein noch mit Notwendigkeit aus den in ihm aufscheinenden Produktionsver­hältnissen herleitet. Nicht Hegemonie, sondern eine durch Aufklärung herzustellende Homologie von Sein und Bewusstsein bilden daher das zentrale Thema der Ideologiekritik. Auf diese Homologie läuft die Widerspiegelun­gstheorie als Epistemologie hinaus, eine Epistemologie des Notwendigen! ??Louis Althusser wendet sich, im Versuch den Marxismus von seiner „ideologischen Vorgeschichte“ zu befreien – und die Basis einer erneuerten Orthodoxie zu legen – gegen die Idee eines das Gesamtsystem regulierenden Prinzips, einer „ursprünglichen einfachen Einheit “, wie sie in der Hegelschen Dialektik erscheint. (Althusser 1973: 202, zitiert nach Spiegel 97: 85) Der reife, „marxistische“ Marx, so seine These, stelle in „Das Kapital“ ein radikales Gegenmodell der Totalität vor. Dieses sei ihm selbst nicht einmal voll bewusst geworden, und um es in philosophischer und methodologischer Hinsicht auf einen Begriff zu bringen, habe ihm die Lebenszeit gefehlt. ??Althusser selbst schreibt im selben Buch: „Mit welchem Begriff ist die Determination eines Elements oder einer Struktur durch eine andere Struktur zu denken? Genau dieses Problem hat auch Marx vor Augen, und er versucht es genauer zu fassen, indem er die Metapher vom Wechsel der allgemeinen Beleuchtung einführt, vom Äther, in den die Körper eingetaucht sind, von den ständigen Modifizierungen, die hervorgerufen werden, wenn eine partikulare Struktur, Lokalisation, Funktion und Beziehungen (mit Marx’ Worten: Verhältnisse, Rang, Einfluss) sowie die ursprüngliche Färbung und das spezifische Gewicht der Objekte bestimmt.“ (Althusser/Balibar 1972: 253)*3

Zur Kennzeichnung dieses Aspekts der strukturellen Kausalität führt Althusser den Begriff „Überdetermina­tion“ ein.

Rosa Luxemburg und der Massenstreik

Um ein mit diesem verwandten Problem, nämlich das durch die gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher politischer, sozialer und pychologischer Faktoren entstehende Auftreten spontaner Massenbewegungen geht es auch bei der von Rosa Luxemburg 1905 geführten Kontroverse um den Massenstreik. ??Luxemburgs Konzept des Massenstreiks hatte sich substantiell von der bis zu diesem Zeitpunkt in der Sozialdemokratie geführten Debatte abgehoben. „Statt des starren und hohlen Schemas einer auf Beschluss der höchsten Instanzen mit Plan und Umsicht ausgeführten trockenen ‚politischen Aktion’ sehen wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich nicht aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden lässt, das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist.“ (Luxemburg 1972: 124) ??Es wäre eine Trivialisierung, wenn man dieses Argument Rosa Luxemburgs gegen die Idee einer bewussten politischen Leitung von Massenkämpfen richten wollte. Sie selbst schreibt: „Verlassen wir nämlich das pedantische Schema eines künstlich von Partei und Gewerkschaft wegen kommandierten und demonstrativen Massenstreiks…so muss offenbar die Aufgabe der Sozialdemokratie nicht in der technischen Vorbereitung und Leitung…sondern, vor allem in der politischen Führung der ganzen Bewegung bestehen.“ (Ebd. 146)??Nicht ob, sondern wie eine bewusste Intervention in einen durch Massenspontaneität ausgelösten politischen Prozess erfolgen kann, ist Luxemburgs Thema. Davon eine tatsächliche Vorstellung zu entwickeln, setzte allerdings voraus, sich von der vorherrschenden polit-bürokratischen Pedanterie zu befreien. Wenn es „gänzlich verkehrt ist, sich den Massenstreik als einen Akt, eine Einzelhandlung zu denken“ (Ebd. 125), was dann: „Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, dass er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend…Po­litische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstration­sstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem Massenstreik selbst…, sondern in dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution.“ (Ebd. 124) Die Eigentümlichkeit des Massentreiks bestehe also darin, „dass das ökonomische und das politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind. Auch darin weicht die Wirklichkeit vom theoretischen Schema weit ab.“ (Ebd. 127) ??Bei Rosa Luxemburgs Text handelt es sich nicht um ein politisches Pamphlet, sondern um eine im Parteiauftrag durchgeführte wissenschaftliche Studie des Massenstreiks, der als politisches Elementarereignis der russische Revolution 1905 den Stempel aufgedrückt hatte. ??Nicht zufällig ist die strukturelle Ähnlichkeit des Bildes, das Rosa Luxemburg vom Massenstreik zeichnet, mit einer Stelle aus Marx’ Grundrissen. Geht es aber bei ihr um die politische Aktion, um „lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich nicht aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden lässt, das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist“, so bei Marx um den spröden Begriff der „Produktionsweise“ als einer „allgemeinen Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert….ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.“ In beiden Fällen geht es aber um eine, mit einem Wort gesagt, Überdetermination, die folgt man Akthusser und Balibar, alle sozialen Prozesse auszeichnet, was wie Rosa Luxemburg vermerkt, in der bisherigen orthodoxen Theorie nicht abgehandelt werden könne, weil die Wirklichkeit von dieser weit abweiche.??Lu­xemburg war zeitlebens eine Parteipolitikerin, und ihre Kritik an politischer Führung richtet sich an konkrete Führungen, sie negiert nicht deren Legitimität im Allgemeinen, sondern kritisiert die bürokratische Erstarrung. ??Die epistemologische Bedeutung von Luxemburgs Konzeption besteht vor allem in der Einsicht in die mögliche „symbolische Überdeterminierung“ einzelner Kämpfe durch andere und durch den revolutionären Aufstand als solchem besteht, womit ein „konkreter Mechanismus für die Vereinheitlichung dieser Kämpfe vorgeschlagen“ würde. (Ebd. 42)??Ausschlag­gebend ist dabei folgendes: Für die gesamte sozialistische Orthodoxie von Kautsky bis Lenin stellte die in den Produktionsver­hältnissen a priori fixierte Klasseneinheit die Voraussetzung für jede politische Einheit der Klasse dar. Die Aufgabe von Partei und Gewerkschaft konnte folglich nur darin bestehen, im (Nach-)Vollzug die politische Einheit zu organisieren.??Rosa Luxemburg stellt in ihrer Studie zum Massenstreik das Problem aber umgekehrt: Die objektive Einheit tritt hier nicht als die Voraussetzung, sondern als das Resultat der politischen Aktion in Erscheinung, wird damit zur subjektiven Vereinigung in der und durch die Aktion. Die Frage so zu stellen heißt aber, statt mit Geschichtsdeter­minismus mit Überdeterminierung und Kontingenz zu kalkulieren, und bedeutet anzuerkennen, dass es im politischen Kampf keine andere Erfolgsgewähr gibt, als die politische Aktion, das heißt die Verknüpfung (Artikulation) verschiedener sich überdetermini­erender sozialer und politischer Widersprüche zu einem alternativen Projekt.

Dieser Text ist Teil einer größeren Arbeit über Marxismus und Post-Marxismus ?

Anmerkungen:

(*1) Die HerausgeberInnen des 1980 in Leipzig erschienen kleinen Bändchens „Antonio Gramsci. Zu Politik, Geschichte und Kultur“ versäumten es nicht, in einer Fußnote auf einen Kontrast hinzuweisen: “Vergleiche dieses Kapitel über die Rolle der Intellektuellen mit den Feststellungen Lenins zur revolutionären Intelligenz in ‚Was tun?‘, besonders im Abschnitt 2, Spontaneität der Massen und Bewusstheit der Sozialdemokratie“. (Gramsci 1980: 371).

*2 In der ihm eigenen eindringlichen pädagogischen Sprache findet sich diese „mechanische“ Interpretation der Hegemonie in Lenins 1905 im Schweizer Exil verfassten Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“: „Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand der Selbstherrschaft mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollbringen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren.“ (Lenin 1973: 90)

3 Althusser/Ba­libar nehmen hier Bezug auf eine berühmte Stelle aus den Grundrissen“. „In allen Gesellschaften ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluss anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.“ (Marx 1974: 27)

Literatur

Althusser, Louis/ Balibar, Etienne (1972): Das Kapital lesen I. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbeck bei Hamburg

Anderson, Perry (1979) Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung. Olle & Wolter Berlin

Cerroni, Umberto (1979): Gramsci-Lexikon. Zum Kennen- und Lesen-Lernen. VSA-Verlag, Hamburg

Gramsci, Antonio (1980): Zu Politik, Geschichte und Kultur. Röderberg Verlag G.m.b.H., Frankfurt am Main

Gramsci, Antonio (1991): GEFÄNGNISHEFTE. Bd.1. Argument-Verlag, Hamburg

Gramsci, Antonio (1993): GEFÄNGNISHEFTE. Bd.5. Argument-Verlag, Hamburg

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantalle (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion de Marxismus. Passagen Verlag Ges.m.b.H., Wien

Lenin, Wladimir Iljitsch (1973): Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der bürgerlichen Revolution, in LW, Bd.

Lenin, Wladimir Iljitsch (1974a) Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. In: LW, Bd. 25, Dietz Verlag Berlin

Lenin, Wladimir Iljitsch (1941): Was tun? Brennende Fragen der Bewegung. Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau

Luxemburg, Rosa (1972): Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke. Band 2 (1906 bis Juni 1911). Dietz Verlag, Berlin

Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In MEW, Ergänzungsband, Dietz Verlag, Berlin

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1969b): Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: MEW Bd.3, Dietz Verlag, Berlin

Marx, Karl (1974): Das Kapital. Erster Band. In MEW, Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin

Marx, Karl (1974a): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Dietz Verlag, Berlin

Spiegel, Hermes (1997): Gramsci und Althusser. Eine Kritik der Altusserschen Rezeption von Gramscis Philosophie. Argument Verlag, Berlin

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantalle (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion de Marxismus. Passagen Verlag Ges.m.b.H., Wien

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