KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Thema Mindestsicherung

(16.3.2010)

Hintergrundin­formation

Mindestsicherung: 12 Mal 744 Euro

SPÖ und ÖVP einigten sich kürzlich auf die so genannte „Mindestsicherung“; sie soll im September 2010 in Kraft treten. Zuvor sind neben dem Nationalrat noch die Länder gefordert, die entsprechenden Beschlüsse zu fassen.

Die Mindestsicherung wird 744 Euro pro Monat betragen und wird zwölf Mal ausgeschüttet. Von der Regierung wird diese Mindestsicherung als Maßnahme zur Armutsverringerung bejubelt, während KPÖ und NGOs wie etwa die Armutskonferenz sie als Armutsbefestigung und als neu etikettierte Sozialhilfe kritisieren.

Die Mindestsicherung für Paare beträgt 1.116 Euro, im selben Haushalt lebende Kinder erhalten 134 Euro.

Der in einigen Bundesländern übliche Rückgriff auf das Vermögen von Familienangehörigen wird bei der Mindestsicherung gekippt. Den Regress gibt es allerdings weiter bei Eltern minderjähriger Kinder. Überdies muss ein eigenes Vermögen bis zu einem Freibetrag von rund 3.700 Euro verwertet werden, ehe die Mindestsicherung bezogen werden kann. Behalten dürfen die BezieherInnen u.a. ein berufsbedingt notwendiges Auto oder den Hausrat.

Die BezieherInnen der Mindestsicherung sind hinkünftig krankenversichert und erhalten eine E-Card. Bisher waren sie auf die Krankenhilfe im Rahmen der Sozialhilfe angewiesen. Anträge auf Mindestsicherung können beim Arbeitsmarktservice eingebracht werden oder auf Landesebene „bei allen Stellen, die dafür geeignet erscheinen“, wie es in der Ministerratsvorlage heißt. Wie das dann in der Realität ausgestaltet wird, ob also weiter auch Gemeinden oder Bezirkshauptman­nschaften als Anlaufstellen fungieren werden, ist also offen.

Nach Schätzung der Koalition sollen zumindest 270.000 Menschen von der Neuregelung „wesentlich“ (O-Ton Sozialminister Hundstorfer) profitieren. Demnach hätten alle Personen auf die Mindestsicherung Anspruch, die „Lebensunterhalt, Wohnbedarf und Krankenversicherung nicht aus Eigenem finanzieren können, und die zu einem dauernden Aufenthalt im Inland berechtigt“ seien.

Finanziert soll die Mindestsicherung zum überwiegenden Teil vom Bund werden, der 140 Millionen Euro beisteuert, die Länder sollen etwa 50 Millionen Euro aufbringen.

Kritik an der Mindestsicherung

"Bei der Mindestsicherung handelt es sich um die Umwandlung der bestehenden Sozialhilfe auf ein einheitliches relativ niedriges Niveau und um keine wirkliche Grundsicherung für alle“, kritisiert die KPÖ.

Die Budgetprobleme, die zur weiteren Verschlechterung und zur Verzögerung der Neuregelung geführt haben, waren und sind unglaubwürdig. Nach wie vor hält die Regierung weitere Milliarden Euro für die Großbanken bereit, während um hundert Millionen für die Existenzsicherung der 270.000 Ärmsten gefeilscht wurde und wird. Das ist das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit. Die KPÖ fordert die Umwidmung des für die 14malige Auszahlung der Mindestsicherung erforderlichen Betrags aus diesen Geldern, denn dies würden die Geldinstitute verschmerzen.

Es ist bezeichnend, dass es zu dem jetzt vom Sozialminister präsentierten Konzept einer Mindestsicherung von zwölfmal 744 Euro ab 1. September 2010 von allen Seiten Kritik hagelt. Ist jene von AK und ÖGB noch schaumgebremst, so gehen vor allem Sozialvereine wie Caritas, Armutskonferenz oder Volkshilfe – die mit der Armut täglich direkt konfrontiert sind – scharf mit dieser „Lösung“ ins Gericht.

Verhalten haben auch die SPÖ-SozialreferentInnen von Oberösterreich, Salzburg und der Steiermark Einwände, weil es keine 14malige Auszahlung gibt. Fakt ist, dass mit dieser Mindestsicherung auf Kosten der Ärmsten gespart wird.

Als Zynismus pur kritisiert die KPÖ, wenn Sozialminister Hundstorfer davon spricht, von dieser Mindestsicherung würden 270.000 Menschen „wesentlich profitieren“ und der Ansage, dass die Mindestsicherung ein „Trampolin und keine soziale Hängematte“ sei. Die „Betreuungs- und Aktivierungspro­gramme“ des AMS sind ja sattsam bekannt. Analog zu Hartz IV in Deutschland geht es mit der jetzt gefeierten Sozialleistung wohl vor allem um Zurichtung für den Arbeitsmarkt. Wer sich weigert, einen „passenden Job“ anzunehmen, wird mit Kürzung der Mindestsicherung bestraft.

Mit zwölfmal 744 Euro liegt die Mindestsicherung weit unter der offiziellen Armutsgrenze von aktuell 951 Euro (eu silc 2008), aber auch unter dem Ausgleichszula­genrichtsatz, der monatlich umgerechnet 914 Euro beträgt. Dabei ist es ein schwacher Trost, dass BezieherInnen künftig eine E-Card und damit Zugang zu medizinischen Leistungen erhalten, und der berüchtigte Regress zum überwiegenden Teil wegfällt.

Von Armut bedrohte Kinder und Jugendliche sollen künftig je nach Alter lediglich 15 bis 18 Prozent des für Erwachsene errechneten Mindestsicherun­gsbetrages zuerkannt bekommen. Der Festlegung dieses Prozentsatzes liegen keinerlei empirisch erhobene Zahlen zu Grunde, die Lebensrealität von Kindern, Jugendlichen und deren Familien findet sich darin nicht wieder. Kinder und Jugendliche sind nicht einfach kleine Erwachsene, tatsächlich entsteht aufgrund ihrer Entwicklung und ihres Heranwachsens ein Bedarf, der mit denen der Erwachsenen nicht gleichgesetzt werden kann.

Das in Deutschland bestehende Gesetzespendant (ALG II) sieht im Vergleich zum österreichischen Entwurf zwar höhere Sätze für Kinder und Jugendliche vor (60 Prozent, wobei man die Zahlen nicht eins zu eins vergleichen kann), dennoch äußert jüngst der

Bundesverfassun­gsgerichtshof in seinem richtungweisenden Urteil (BVerfG, 1BvL 1/09 vom 9.2.2010), dass sich der entsprechende Prozentsatz an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten habe. Ein zusätzlicher Bedarf sei vor allem bei schulpflichtigen Kindern

festzustellen, eine Nicht-Berücksichtigung verletze den Gleichheitsgrun­dsatz.

Gescheitert ist auch der Plan eines „One-Stop-Shops“, also einer einzigen Anlaufstelle für den Bezug einer Mindestsicherung. Neben den neun Ländern ist auch das AMS als Anlaufstelle geplant, da dieses aber entsprechend den Vorgaben von Regierung und Kapital nur für „arbeitsfähige Personen“ zuständig ist, besteht die Gefahr, dass damit AlleinerzieherInnen mit fehlender Kinderbetreuung, Personen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit usw. als „arbeitsunfähig“ eingestufte Menschen gesellschaftspo­litisch auf das Abstellgleis geschoben werden.

„Als Sozialhilfereform mit Mindestsicherun­gselementen“ bezeichnet das Armutsnetzwerk die vorliegenden Eckpunkte. „Die neue Mindestsicherung ist im Wesentlichen die alte Sozialhilfe“, so die Armutskonferenz. „Sie ersetzt nicht die Sozialhilfe, sondern baut sich in das bestehende System der neun Bundesländerre­gelungen ein. Es wird weiter neun verschiedene Standards geben. In den meisten Punkten bleibt die Ausgestaltung zentraler Elemente den Landesgesetzgebern bzw. den Vollzugsrichtlinien der Behörden überlassen. Das führt die strukturellen Fehler des alten Sozialhilfesystems weiter. Ausgangspunkt der Sozialhilfereform war ja die stärkere Harmonisierung des unteren Netzes hin zu einer grundrechtsori­entierten, bürgerInnenfre­undlichen Sozialleistung, die nicht mehr in das Belieben neun unterschiedlicher Länderregelungen gestellt ist. Davon sind wir jetzt wieder weit entfernt,“ so die Armutskonferenz.

Weiter offen sind die Fragen der Wohnkosten, der Hilfen in besonderen Lebenslagen, die Reform des Vollzugs in den Ländern und die Handhabung des Verschlechterun­gsverbots.

Verbesserungen ortet die Armutskonferenz in der Krankenversiche­rung, dem Wegfall des Regresses, der Bescheidpflicht und der Gleichstellung von Alleinerziehenden mit Alleinstehenden.

Grundsätzliches zu Mindestsicherungs-Systemen

Mindestsicherun­gssysteme gelten im Spektrum der Sozialleistun­gen als

„unterstes soziales Netz“, damit als jene monetäre Leistungen, die all jenen, denen

keine anderen Einnahmen bzw. Leistungen zur Verfügung stehen, einen dem

Lebensstandard des jeweiligen Landes angemessenen bescheidenen Lebensstil

jenseits der Armutsgrenze ermöglichen sollen.

Zahlreiche internationale Deklarationen, Konventionen und Verträge schreiben das Recht auf Einkommen, das Recht auf Inanspruchnahme der Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation sowie den Respekt vor der menschlichen Würde fest. Dazu zählt auch das Recht auf monetäre Mindestsicherung, wie es in folgenden

Dokumenten vorgesehen ist:

Immer wieder wird in Diskussionen rund um die verschiedenen Systeme monetärer

Mindestsicherung die Sorge des Missbrauchs geäußert.

Mindestsicherun­gsleistungen würden den Anreiz, so das Stereotyp, eine Erwerbsarbeit

aufzunehmen, verringern, die Bezahlung angemessener Löhne würde dadurch erschwert und die Volkswirtschaft beschädigt.

Im Folgenden sollen nach einer kurzen Darstellung von Modellen der Mindestsicherung einige der häufig vorgebrachten Argumente gegen die Einführung bzw. Verbesserung von Mindestsicherun­gssystemen als Mythen entkräftet werden.

Zahlreiche nationale und internationale Studien und Erfahrungen zeigen, dass angemessene Mindestsicherun­gssysteme nicht die befürchteten negativen Auswirkungen mit sich bringen, sondern im Gegenteil dazu beitragen, jene individuellen und gesellschaftlichen Kosten zu reduzieren, die durch Armut entstehen.

Modelle der Mindestsicherung:

Grundeinkommen, Basislohn, bedarfsorientierte Grundsicherung, Sozialhilfereform – hinter diesen Termini verbergen sich vier Modelle einer Mindestsicherung:

Das einfachste wäre eine Sozialhilfereform. Sie bräuchte eine Korrektur der ausgewiesenen Mängel der Sozialhilfe wie die beschämenden Bedarfsprüfungen, mangelnde Krankenversiche­rung, undurchsichtige Richtsatzhöhen, falsche Anreizstrukturen in der Finanzierung, hohe Nichtinanspruchnah­me, mangelnde Rechtssicherheit, die Armutsfalle "Regress“ oder die je nach Bundesland unterschiedlichen Regelungen. Dazu gibt es einen guten Modellentwurf etwa des Sozialrechtler Walter Pfeil.

Vorsichtig ist vor falschen Etiketten angebracht: In Tirol wurde das neue Sozialhilfegesetz einfach „Grundsicherung“ genannt, obwohl es darin manifeste Verschlechterungen für die Betroffenen gegeben hat. Nicht was draufsteht, ist entscheidend, sondern was drinnen ist.

Das zweite Modell umfasst neben der Sozialhilfe auch die vor gelagerten Systeme der Notstandshilfe, des Arbeitslosengeldes, der Pension und der Krankenversiche­rung. Dieses Modell ist unter dem Namen „bedarfsorientierte Mindestsicherung“ bekannt geworden. Ihre Grundidee besteht darin, Lücken im herrschenden System zu sockeln und mit Mindestsätzen zu ergänzen.

Voraussetzung für die Mindestsicherung sind Vermögensprüfung, Arbeitsmarktzugang und Haushaltsanrechnun­g. An diesen drei Schrauben entscheidet sich, ob die bedarfsorientierte Mindestsicherung eine Verbesserung oder eine Verschlechterung zur jetzigen Lage darstellt. Denn Bedarfsprüfungen können beschämen und neue Armutsfallen aufmachen. Hartz IV in Deutschland z.B. ist eine restriktive Spielart einer bedarfsorientierten Mindestsicherung.

Eine bedarfsorientierte Mindestsicherung kann aber auch den umgekehrten Weg gehen, nämlich die Leistungen aller bestehenden Systeme grundrechtsori­entiert und Existenz sichernd gestalten, ohne sie weiter zu schwächen. Und es kann auf Vermögensanrechun­gen verzichtet werden. Weiters können Einschleifrege­lungen am Arbeitsmarkt Menschen in prekären Jobs entlasten. Dieses Modell wurde von Sozialwissenschaf­tern um Gerhard Bäcker (Dt) entwickelt, für Österreich durch Studien von Rosner/Dimmel/Ta­los/Wetzel adaptiert. Die Armutskonferenz hat dazu ein „Mindestsicherungs ABC“ vorgelegt, in dem noch soziale Dienstleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik in die Mindestsicherung eingebaut werden.

Das dritte Modell ist das „Grundeinkommen im Sozialstaat“. Ein bedingungsloses Einkommen als soziales Grundrecht für alle. Die sozialen Sicherungssysteme (Sozialversiche­rungs- oder steuerfinanziert bei Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Pension) bleiben bestehen. Auf das Grundeinkommen gibt es einen Rechtsanspruch unabhängig von sonstigen Einkommen, Arbeit oder Lebensweise. Dieses Modell ist in Österreich mit der Katholischen Sozialakademie, den Bündnisinitiativen für ein bedingungsloses Grundeinkommen oder etwa der KPÖ verbunden

Als „Basislohn ohne Sozialstaat“ kann man das vierte Modell bezeichnen. Es ist ein voraussetzungsloses Einkommen für alle. Aber: Die sozialen Sicherungssysteme werden privatisiert. Die großen Lebensrisiken werden nicht mehr solidarisch, sondern von jedem alleine getragen. Die öffentliche Hand zieht sich auch von sozialer Infrastruktur und Dienstleistungen zurück. Wer Geld hat, zahlt sich die gute Ausbildung und die gute Gesundheitsver­sorgung, wer kein Geld hat, dem bleibt die schlechte. Dieses Modell wurde vom „neoliberalen“ Ökonomen Milton Friedmann vorgeschlagen.

Begriffe wie „Grundsicherung“ oder „Grundeinkommen“ allein sagen noch nicht viel aus. Auch hier gilt wieder: Nicht was draufsteht ist entscheidend, sondern was drinnen ist.

Mindestsicherung: Mythen, Irrtümer, Vorurteile

Mit der Mindestsicherung wird jetzt das Sozialsystem armutsfest gemacht.

Sagen die einen.

Jetzt wird ja keiner mehr arbeiten gehen.

Sagen die anderen.

Nichts davon wird eintreten.

Mensch kann rhetorisch und ideologisch wieder abrüsten.

Mit der so genannten Mindestsicherung werden völlig falsche Erwartungen geweckt – bei

den Hilfesuchenden genauso wie bei den prinzipiellen GegnerInnen von Sozialtransfers

für Arme. Es wird über etwas diskutiert, das es so gar nicht gibt.

Die Mindestsicherung ersetzt nicht die Sozialhilfe, sondern baut sich in das bestehende

System der neun Bundesländerre­gelungen ein. In vielen Punkten bleibt die Ausgestaltung zentraler Elemente den Landesgesetzgebern bzw. den Vollzugsrichtlinien der Behörden überlassen. Sie ist im Wesentlichen die alte Sozialhilfe. Wer z.B. zurzeit ein Sparbuch hat, ein nicht zur Arbeit benötigtes Auto, eine private Pensionsvorsorge oder auch nur eine Sterbegeldver­sicherung, muss alles verkaufen und das Geld verbrauchen, bevor er sich überhaupt aufs Sozialamt trauen kann. Bei Wohnungseigentum sichert sich der Staat noch im Grundbuch ab.

Nach Abzug der Fixkosten fürs Wohnen bleibt rund einem Drittel der Menschen weniger als vier Euro pro Tag und Person im Haushalt übrig, um alle anderen Bedürfnisse abzudecken.

44.000 Sozial­hilfebezieherIn­nen sind minderjährige Kinder und Jugendliche. Das sind 29 Prozent aller Sozialhilfebe­ziehenden.

Ein Leben am Limit verursacht außerdem Stress. Dutzende Studien weisen den Zusammenhang von ökonomischer Belastung und Stress nach.

Beim Sozialhilfebezug zeichnet sich statt eines steigenden Missbrauchs

ein gegenteiliges Szenario ab:

Laut einer Studie des Europäischen Wohlfahrtszentrums nehmen über 50 Prozent aller Bezugsberechtigten keine Sozialhilfe in Anspruch. Die wahren Probleme in der Sozialhilfe lauten also nicht „soziale Hängematte“, sondern vielmehr „Nichtinanspruchnah­me“ und „Sozialbürokratie“. Überdies sind bei der Mindestsicherung 183 Euro für eine allein stehende Person fürs Wohnen vorgesehen. Dieser Betrag wird – ohne Leistungen der Länder – für kaum jemanden ausreichen, um eine Wohnung zu finanzieren.

Legenden zum Thema Mindestsicherung

1. Die Abstandslegende

Eine hohe Mindestsicherung reduziert den Anreiz zur Arbeit, weil der

Abstand zwischen Sozialleistung und Mindestlohn zu klein wird. Dadurch

wird Faulheit unterstützt und die Zahl der Erwerbslosen erhöht.

Die Vorstellung, dass sich ein Großteil der Betroffenen auf Basis von rein

rechnerischem Kalkül bewusst zwischen der Aufnahme einer Erwerbsarbeit und

dem Bezug einer Sozialleistung entscheidet, konnte bisher durch keine

empirische Studie belegt werden. Vielmehr zeigt die Realität, dass ein Großteil

derer, die einer Erwerbsarbeit nachgehen können, dies auch wollen und auf der

Suche nach einer Beschäftigung sind, die sie mit einem ausreichenden

Einkommen versorgt, um sich selbst und ihre Familien vor einem Leben in Armut

zu bewahren.

Viele Menschen finden derzeit aufgrund ihres Alters (zu jung oder zu alt),

Krankheit, Behinderung oder wegen familiärer Betreuungspflichten k­einen

Arbeitsplatz und sind deshalb auf Sozialleistungen angewiesen.

Gleichzeitig werden – vor allem von vielen Frauen – gesellschaftlich wichtige

Tätigkeiten geleistet, die nicht bezahlt werden, wie beispielsweise die Betreuung

von Kindern und kranken oder älteren erwachsenen Angehörigen.

Regierungen, denen es um die soziale Teilhabe aller geht, müssen garantieren,

dass Erwerbseinkommen und Sozialleistungen allen ein würdiges Leben

ermöglichen. Gelingt es einer Gesellschaft nicht, ein adäquates Einkommen für

alle zu sichern und Armut zu vermeiden, schadet dies nicht nur den unmittelbar

Betroffenen. Es produziert auch Kosten für die Gesellschaft und die Wirtschaft,

z.B. durch schlechte Gesundheit und den Verlust von Erwerbspotential.

Die gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen eines Lebens in Armut machen

es meist noch schwieriger, eine Erwerbsarbeit zu finden. Eine angemessene

Mindestsicherung würde dafür sorgen, dass Hindernisse überwunden werden und der

Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden kann.

2. Die Missbrauchslegende

Eine höhere Mindestsicherung führt zu verstärktem Missbrauch und

macht das System unverwaltbar bzw. den Vollzug unmöglich.

Britische Studien haben belegt, dass ein Großteil fehlerhafter Auszahlungen in

den Sozialhilfesystemen durch Verwaltungsfehler und nicht durch Missbrauch

entsteht. Oft werden Fehler von den zuständigen MitarbeiterInnen verursacht,

weil das System so kompliziert ist, dass nicht einmal diese alles richtig machen

können und anspruchsberechtig­te Personen häufig weniger Mittel bekommen als

ihnen eigentlich zustehe. Wegen der administrativen Komplexität und dem

Mangel an Informationen und Beratung und aufgrund der

Beschämungser­fahrungen, die mit dem Bezug von Sozialleistungen verbunden

sind, nehmen auch in Österreich viele Menschen die ihnen zustehenden

Leistungen der Sozialhilfe nicht in Anspruch. Sie wissen nicht, worauf sie

Anspruch haben oder schämen sich, um Unterstützung zu bitten.

Wenn es in einzelnen Fällen tatsächlich zu unberechtigten Ansprüchen kommt,

hat das nicht notwendigerweise mit betrügerischen Absichten zu tun. Oft handelt es sich um Fehlinformationen, oder der Grund liegt darin, dass den betroffenen Personen

schlicht zu wenig Geld zum Leben bleibt. Die Effizienz der Armut bekämpfenden

Wirkung von Sozialhilfesystemen kann sicherlich nicht durch stärkere Kontrollen

erhöht werden. Sie muss vielmehr durch höhere Beträge, einfacheren Zugang,

mehr Information und besser geschultes Personal erreicht werden.

3. Die Wettbewerbslegende

Höhere Sozialleistungen führen zu steigenden Lohnforderungen, die sich

Unternehmen nicht leisten können. Um wettbewerbsfähig zu bleiben,

müssen Sozialleistungen reduziert werden.

Dieses Argument beruht auf einer stark simplifizierten ökonomischen Theorie. Ein

Blick auf die Mitgliedsländer der EU zeigt, dass es durchaus wettbewerbsfähige

Länder mit hohem Lohnniveau, weniger Ungleichheit und besseren

Sozialleistungen gibt.

ArbeitnehmerInnen sollten immer adäquat entlohnt werden, Arbeitslöhne dürfen

nicht unter der Armutsgrenze liegen. Zudem stellt sich die Frage, warum

ausgerechnet Niedriglohnbe­zieherInnen die Last der Verantwortung für die

positive Entwicklung der Volkswirtschaft tragen sollten. Wenn die Erhöhung ihrer

Löhne ökonomische Konsequenzen hat, sollten diese Kosten von jenen getragen

werden, die über die meisten Ressourcen verfügen, und nicht von jenen, die

ohnehin am wenigsten verdienen. Wenn Unternehmen tatsächlich keine

adäquaten Löhne bezahlen können, sollte nicht an den Niedriglohnbe­zieherInnen,

sondern bei den BezieherInnen hoher Löhne gespart werden.

Gerechte Steuern auf Einkommen und Gewinne müssen dafür sorgen, dass dem

Staat genug Mittel bleiben, um qualitätvolle soziale Infrastruktur zu sichern. Gute

Bildungsmöglichke­iten und Gesundheitsver­sorgung, qualitätvolle

Kinderbetreuun­gsangebote, gut ausgebauter und leistbarer öffentlicher Verkehr

etc. leisten einen wichtigen Beitrag zur Lebensqualität a­ller.

4. Die Globalisierun­gslegende

Höhere Mindestlöhne sind in einer globalisierten Welt nicht möglich. In

Konkurrenz mit Billiglohnländern würden höhere Löhne zur Absiedelung

von Betrieben und zum Niedergang der heimischen Wirtschaft führen.

Der globale Wirtschaftswet­tbewerb ist ein komplexes Phänomen, das weit über

den unmittelbaren Lohnvergleich hinausgeht.

Wer Güter und Dienstleistungen konsumiert, muss die entsprechenden Pre­ise

bezahlen. Diese müssen so kalkuliert werden, dass sie einen angemessenen Lohn

und gute Bedingungen für ArbeitnehmerInnen enthalten.

Was in Asien ein guter Lohn sein kann, reicht in Europa zum Leben nicht aus. Ein

direkter Lohnvergleich macht für europäische ArbeitnehmerInnen, die hier in

Europa ihr Leben bestreiten müssen, deshalb keinen Sinn. Außerdem kann ein

Großteil der am geringsten entlohnen Jobs in Europa ohnehin nicht in andere

Länder exportiert werden, weil sie in der Landwirtschaft und im

Dienstleistun­gssektor angesiedelt sind.

Die Kalkulationen, die Unternehmen im globalisierten Wettbewerb durchführen,

basieren nicht einfach auf den Lohnkosten und damit der Produktion in einem

bestimmten Land, sondern auf komplexen und artifiziellen Berechnungen der

Preise, zu denen Güter und Dienstleistungen verkauft werden können. Die

Kalkulationen werden dabei auf eine Weise erstellt, die vor allem dazu dient, die

Löhne in den produzierenden Ländern zu drücken, Steuerzahlungen zu

reduzieren und damit Profite zu steigern.

Im Sinne globaler Armutsbekämpfung sollte das Bemühen vielmehr dahin

gehen, die allgemeinen Standards global zu erhöhen, anstatt sie allerorts zu

reduzieren. Europäische Standards für angemessene Löhne und

Arbeitsbedingungen sollten als Beispiele guter Praxis für andere Länder dienen.

5. Die Unleistbarkeit­slegende

Weil Staatshaushalte bereits verschuldet sind, sind Mindestsicherun­gssysteme nicht finanzierbar.

Regierungen haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass allen jene Ressourcen und

Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die notwendig sind, um an der Gesellschaft

umfassend teilhaben und diese mitgestalten zu können.

Jede Regierung kann sich ein angemessenes Mindestsicherun­gssystem leisten,

wenn sie die dafür notwendigen Einnahmen kalkuliert und hohe Einkommen und

Vermögen von reichen Personen und profitablen Unternehmen entsprechend

besteuert.

Die entscheidende Frage ist also, in welchem Interesse eine Regierung ihre

Budgets erstellt: im Dienste der ganzen Bevölkerung oder im Interesse

wohlhabender BürgerInnen und führender Unternehmen?

6. Die Vorbilderlegende

Kinder, deren Eltern Sozialleistungen beziehen, bekommen ein schlechtes Beispiel von einem bequemen Leben, in dem es Geld ohne Leistung gibt.

Dass Kinder das Vorbild tätiger Erwachsener brauchen, ist nicht zu bestreiten.

Arbeit besteht jedoch nicht nur in bezahlter Erwerbsarbeit. Unsere Gesellschaft

muss endlich den Wert unbezahlter Sorgearbeit, z.B. in der Kindererziehung,

erkennen und wertschätzen.

Das beste Vorbild, das Kindern gegeben werden kann, besteht darin, ihnen zu

zeigen, dass jede und jeder jenen Beitrag zur Gesellschaft leisten soll, den er

oder sie am besten leisten kann.

In einer Gesellschaft, die nicht allen arbeitswilligen Erwachsenen einen

anständigen bezahlten Job garantiert kann, und in einer Medienwelt, die die

Sehnsucht nach dem großen Gewinn durch Glücksspiel oder Erbschaften nährt

und steuerflüchtige Höchstverdiene­rInnen als Celebrities feiert, ist es zynisch, ein

auf Erwerbsarbeit reduziertes Leistungsbewus­stsein zu fordern.

7. Die Abhängigkeitsle­gende

Eine angemessene und zeitlich unbegrenzte Mindestsicherung würde nur

zur Abhängigkeit von Sozialleistungen führen und die Betroffenen

inaktiv machen.

Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass adäquate Sozialleistungen zu

Abhängigkeit führen und inaktiv machen. Der beste und gerechteste „Test“ im

Hinblick auf die Arbeitswilligkeit einer Person ist es, ihr oder ihm einen wirklich

sicheren und anständig bezahlten Job mit Perspektive anzubieten.

Sozialleistungen, die wie in den USA, nur zeitlich begrenzt ausbezahlt werden,

steigern die Armut von Familien, deren Bedürfnisse ja nicht zeitlich begrenzt

sind. Es ist grausam, erwerbsarbeitslose Menschen und ihre Familien zu bestrafen,

wenn nicht genug passende und anständig bezahlte Jobs zur Verfügung gestellt

werden können. Regierungen, die ihre BürgerInnen in die Erwerbsarbeit bringen wollen, müssen sicherstellen, dass es genug anständig bezahlte und sichere Jobs mit

Perspektive gibt, die deren Fähigkeiten entsprechen und ihnen Weiterentwicklung

ermöglichen. Zudem ist ein ausreichendes Angebot an qualitätvoller Kinderbetreuung zu sichern.

Alle Menschen sind von anderen abhängig. Interdependenz ist die Basis sozialen

Lebens – überall und jederzeit. Es ist ignorant, vorzugeben, dass nur

Sozialhilfeem­pfängerInnen abhängig sind, wenn quer durch die Gesellschaft alle

anderen Menschen genauso oder vielleicht sogar stärker von anderen SteuerzahlerInnen abhängig sind.

In einigen EU-Ländern bezahlen Menschen im Niedrigeinkom­menssektor mehr an

direkten und indirekten Steuern als Menschen in hohen Einkommensgruppen.

Deren bequemes Leben wird von den Steuern der armutsgefährdeten Personen

mitfinanziert, die zudem auch in vielen Fällen die Drecksarbeit für sie erledigen

(müssen).

8. Die Individualisi­erungslegende

Hohe Mindestsicherun­gsleistungen würden eine individualistische Gesellschaft fördern und Solidarität zerstören. Es gibt keine empirische Evidenz, dass ein adäquates Haushaltseinkommen ein verantwortliches Miteinander erschwert oder zu Individualisierung führt. Wenn dies so wäre, dann hätte es längst zu einem Kollaps der westlichen

Industriegese­llschaften geführt, wo der Großteil der Haushalte ein adäquates

Einkommen hat.

Diese Aussage basiert selbst auf einer individualistischen Philosophie, die Angst

vor einer inklusiven Gesellschaft hat, in der solidarisch dafür gesorgt wird, dass

kein Haushalt ohne die für Teilhabe notwendigen Ressourcen leben muss.

9. Die Eigenverantwor­tungslegende

Mindestsicherun­gsleistungen sind entwürdigend, da sie das Vertrauen

an die eigenen Fähigkeiten und die Notwendigkeit der Eigenverantwortung untergraben. Das Armutsproblem wird damit nur verdeckt.

Niemand kann wirklich frei leben, wenn es an den notwendigsten Ressourcen fehlt. Armut bedeutet einen Mangel an Verwirklichun­gschancen und Möglichkeiten, sich voll am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen und respektiert zu werden. In modernen Konsumgesellschaf­ten ist Geld eine zentrale Ressource, die alle brauchen, um in vielen Lebensbereichen teilhaben zu können und respektiert zu werden.

Entwürdigend ist es vor allem, wenn Menschen, die mit niedrigstem Einkommen

leben, von jenen, die mehr als genug haben, darüber belehrt werden, wie ein

bescheidener Lebensstil möglich sei.

Das Problem der Einkommensarmut wird auch nicht verdeckt, wenn alle genug

Geld zum Leben haben – es wird abgeschafft. Andere Probleme, wie z.B. die

gesellschaftliche Ausgrenzung, werden dadurch jedoch nicht verschwinden und

müssen mit anderen Maßnahmen bekämpft werden.

10. Die Verschwendungsle­gende

Hart verdientes Geld wird weniger leichtfertig ausgegeben als geschenktes Geld, Sozialhilfeem­pfängerInnen geben ihr Geld irrational aus (z.B. für Kindergeburtstage), Mindestsicherun­gsleistungen werden nicht effizient genutzt.

Die Möglichkeit, eigenes Geld nach eigenem Gutdünken auszugeben, gehört zu

den essentiellen Freiheiten unserer kommerzialisierten Marktgesellschaft.

Niemand, weder reich noch arm, lässt sich gerne von andern sagen, wie er oder

sie das eigene Geld ausgeben soll.

Was einer Person irrational erscheint, ist für eine andere ganz logisch. Eltern

wollen normalerweise das Beste für ihre Kinder, auch wenn sie selbst dafür Opfer

bringen müssen. Menschen, die genug Geld haben, um sich sowohl das Notwendige als auch

einigen Luxus zu leisten, haben kein Recht, jene, die kaum genug zum Leben

haben, dafür kritisieren, dass sie z.B. versuchen, ein wenig Freude in das Leben

ihrer Kinder zu bringen.

Immer noch ist zu empfehlen, was der Armutsforscher Benjamin Seebohm

Rowntree bereits 1923 vorschlug, nämlich, dass jene, die armutsbetroffene

Menschen für verschwenderische Ausgaben kritisieren, zuerst ihre eigenen

Haushaltsbudgets genau jenem eisernen Regime unterwerfen sollen, das sie

anderen empfehlen.

Quellen: