(23.6.2017)
Wer die veröffentlichten Meinungen in den diversen Medien der letzten Tage verfolgt, muss erkennen, dass die bisherigen Einschränkungen in der sozialen Sicherheit (Einschränkung der Familienbeihilfe, Kürzung der Mindestsicherung) nur das Vorspiel zu viel weitreichenderen Amputationen sind.
Das alarmierendste Signal kam aus dem Finanzministerium, das offensichtlich im Vorlauf für die nächste Regierung die Effekte einer Umstellung des Arbeitslosengeldes auf das deutsche Harz IV System berechnete.
Wenige Tage später erschien die „Presse“ mit dem Aufmacher „Neuer Rekord bei der Notstandshilfe“, wobei sie sich (in wessen Auftrag auch immer) die Zahlen beim AMS besorgten. Die Absicht dahinter ist klar: einer „Reform“ in Richtung Harz IV steht die Notstandshilfe im Weg.
Notstandshilfe können jene Arbeitslose beziehen, die nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes noch immer keinen Job vermittelt bekommen oder gefunden haben. Da die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist und die Langzeitarbeitslosigkeit weiterhin zunimmt, übersteigt die Zahl der NorstandshilfebezierInnen die Zahl der ArbeitslosengeldbezieherInnen beträchtlich. Die Höhe der Notstandshilfe beträgt maximal 95% des Arbeitslosengeldes und deren Bezug kann jährlich verlängert werden. Allerdings wird das Einkommen eines im gleichen Haushalt lebenden Partners zur Beurteilung des Notstands eingerechnet, eine Ungerechtigkeit, die insbesonders arbeitslose Frauen um ein selbständiges und sowieso mikriges Einkommen bringt.
Ein Wegfall der Notstandshilfe würde direkt in die Mindestsicherung und damit zu Harz IV vergleichbaren Verhältnissen in Österreich führen. Der wesentliche Unterschied zwischen der Notstandshilfe und der Mindestsicherung besteht darin, dass NotstandshilfebezieherInnen ihre Ersparnisse erhalten können, MindestsicherungsbezieherInnen nicht – diese müssten sich zuerst faktisch mittellos machen, bevor sie Mindestsicherung beziehen können.
Laut „Presse“ können sich „Teile der ÖVP“ eine Streichung der Notstandshilfe „vorstellen“ , was eine Milliarde Euro „Einsparung“ bei den Schwächsten in der Gesellschaft bedeuten und diese noch schwächer machen würde. Es ist überdies zu bezweifeln, dass nur „Teile der ÖVP“ in diesen Abgrund für annähernd zweihunderttausend Menschen anstreben. Harz IV wurde bekanntlich unter einer sozialdemokratisch-grünen Regierung in Deutschland eingeführt. Und Bundeskanzler Kern hat deutlich gemacht, dass er dem ehemaligen französischen Sozialdemokraten Macron, dessen erstes Ziel die Aufweichung des Arbeitsrechts ist, näher steht als dem britischen Sozialdemokraten Corbyn, der genau das Gegenteil verfolgt.
Die neoliberale Doktrin dahinter lautet: je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto höher muss der Druck auf die Arbeitslosen werden, um sie zur Arbeitsaufnahme zu zwingen, unabhängig von der Lage am Arbeitsmarkt und der Anzahl der offenen Stellen, die zur Verfügung stehen. Das Arbeitslosengeld soll aber das Erwerbsrisiko zeitweiliger Arbeitslosigkeit verringern, die Notstandshilfe das „Aussteuern“ wie in der Ersten Republik verhindern. Beides sind Versicherungsleistungen, für die von allen Arbeitenden eingezahlt wird und wesentliche soziale Errungenschaften darstellen. Die neoliberale Doktrin müsste umgedreht werden: In dem der Arbeitsmarkt die Langzeitarbeitslosigkeit und deren Länge produziert, vergrößert er das Risiko, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden. Je länger arbeitslos desto geringer die Chancen. Es wäre also durchaus gerechtfertigt, die Dienstgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung mit einem Aufschlag entsprechend der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu versehen und damit die Unternehmer unter Druck zu setzten, mehr Menschen zu beschäftigen.
Michael Graber, Wirtschaftspolitischer Sprecher der KPÖ