KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Benes-Dekrete, Kronen-Zeitung und EU-Erweiterung


Ein Vortrag von DR. Walther Leeb



Ich glaube nicht, daß es ein Zufall ist, wenn das leider als meinungsbildendes Massenmedium zu bezeichnende Tagblatt "Kronen Zeitung" vor nicht all zu langer Zeit zwei Themen zum Gegenstand seiner Berichterstattung gemacht hat, die sich auf Tschechien bezogen haben und von denen man wohl mit Fug und Recht behaupten kann, dass diese beiden Serien sich gegen dieses nördliche Nachbarland gerichtet haben.

Kann man dem Autor oder dem einen oder anderen Unterstützer der Kampagne gegen das AKW Temelin noch zu Gute halten, er habe sich aus grundsätzlicher Ablehnung gegenüber der Atomkraft vor den Karren der "Krone" spannen lassen, so ist die Ausrichtung der Artikelserie "Nemcum smrt", zu deutsch "Tod den Deutschen", nach meinem Dafürhalten eindeutig. Ich glaube, man kann ihrem Autor nicht einmal zubilligen, ernsthaft um Objektivität bemüht zu sein. Auch wer nur den einen oder anderen Artikel dieser Serie gelesen hat, weiß, daß dieser offen gegen die Tschechische Republik gerichtet gewesen ist und seine Aussage als revanchistisch bezeichnet werden darf.

Ich habe bemerkt, daß in den letzten Tagen so eine Art Nachfolgeserie erscheint, wo rührselige Geschichten aus dem Jahr 1945 erzählt werden. Ich meine bei aller Objektivität - und ich glaube, in meinen weiteren Ausführungen mich sehr um eine solche zu bemühen -, daß man auch von dieser neuen Serie sicherlich nicht sagen kann, daß sie um historische Wahrheit bemüht wäre. Diese unschwer zu erreichende Erkenntnis sollte allerdings nicht ausreichend sein. Im Unterschied zu den Kreisen, die über die "Kronen Zeitung" ihre Politik machen, sollten wir aus zumindest zwei Gründen der Wahrheit auf den Grund gehen und uns eine ausgewogene Meinung bilden. Zum einen denke ich, daß wir als Kommunisten der Wahrheit verpflichtet sind, zum anderen meine ich, daß wir immer in der Lage sein sollten, über den Themenbereich EU-Osterweiterung, EU-Beitritt Tschechiens und die damit im Zusammenhang stehenden Fragen - und dazu gehören eben zumindest gegenwärtig auch die Benes-Dekrete - ernsthaft mitzudiskutieren.

Wenn wir aber diesem Anspruch gerecht werden wollen, dann müssen wir natürlich analysieren, was die Benes-Dekrete sind. Aber das ist eigentlich eher zweitrangig. Wesentlicher ist eine Analyse, auf Grund welcher Entwicklung und in welcher Situation sie seinerzeit erlassen worden sind. Dazu ist aber - und ich hoffe, ich werde Sie damit nicht all zu sehr langweilen - ein sehr weiter Rückblick in die mitteleuropäische Geschichte erforderlich; und zwar ein solcher, der wesentlich weiter zurückreicht als bis zur Besetzung der Tschechoslowakei im Gefolge des Münchner Abkommens, welches wohl besser als Münchner Diktat bezeichnet werden sollte, am 30. September 1938.

Wir müssen uns vor allem von einem weit verbreiteten Irrglauben lösen, der gerade in fortschrittlichen Kreisen mitunter herrscht: Nämlich, daß die Sudetendeutschen in den sogenannten Sudetengebieten erstmals irgendwann einmal seit den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen wären, diese Ländereien etwa okkupiert hätten oder ähnliches mehr. Wir müssen uns vielmehr der historischen Tatsache stellen, daß die Geschichte der deutschen Bevölkerung in dieser Gegend einige Jahrhunderte zurückreicht, nämlich bis ins 12. Jahrhundert. Das Königreich Böhmen
und die Markgrafschaft Mähren, waren nämlich etwa seit diesem Zeitpunkt keineswegs homogen besiedelt. In den Randgebieten lebten seit damals - und das ist als historische Tatsache nicht zu leugnen - fast ausschließlich Menschen deutscher Muttersprache. Und die Städte Böhmens und Mährens - von der Hussitenstadt Tabor abgesehen - beruhen geradezu ausschließlich auf Gründung durch Deutsche.

Es liegt auf der Hand, daß dies unter den damaligen feudalen Verhältnissen zu Spannungen führen mußte: Zu Spannungen, die - die wie wir als Marxisten wissen -ihre Ursachen primär in ökonomischen Grundlagen gehabt haben. Ich darf in diesem Zusammenhang für diejenigen, die an diesem historischen Thema, das wie gesagt auch für die Gegenwart von wesentlicher Bedeutung ist, Interesse haben, auf eine Arbeit von Univ. Prof. Dr. Hautmann aufmerksam machen, die auch in den Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft Nr. 2/Juni 2001 abgedruckt worden ist und deren Lektüre ich jedem Interessierten nur dringend empfehlen kann.

Ich gestatte mir, hier wesentliche Teile dieser historischen Zusammenfassung des Universitätsprofessors und Genossen Dr. Hautmann zur Kenntnis zu bringen, weil sie für das Verständnis der Geschichte der letzten mehr als 700 Jahre und vor allem der Ereignisse nach 1945 von wesentlicher Bedeutung sind.

Ich habe schon kurz angedeutet, daß die Besiedelung der sogenannten Randzonen Tschechiens durch Deutsche bis in das 12. Jahrhundert zurückgeht , wobei dies aus damaliger Sicht etwas durchaus Vernünftiges gewesen ist. Man muß sich vor Augen führen, daß Böhmen für die damalige Zeit eines der ökonomisch weitest entwickelten Länder gewesen ist und so gesehen als fortschrittliches Land betrachtet werden konnte. Es war durchaus zukunftsorientiert, daß man damals getrachtet hat, deutsche Kaufleute, Handwerker, bäuerliche Siedler in die sehr dünn besiedelten gebirgigen Randgebiete zu holen und solcherart etwas für die Ausweitung der Wirtschaft zu tun. Daß sich dennoch sehr bald daraus gewisse Konflikte ergeben haben, ist eine andere Sache. Diese Spannungen haben aber weniger nationale als wirtschaftliche Gründe gehabt und sind in rascher Folge in religiösen Auseinandersetzungen gemündet. Es ist natürlich, daß der tschechische Feudaladel über die immer reicher und dadurch mächtiger werdenden deutschen Einwanderer nicht begeistert gewesen ist. Die umso weniger, als sich die Kirche sehr bald mit der deutschen Oberschicht verbündet hat. Diese Kirche wiederum ist von äußerst gravierenden Mißständen geprägt gewesen ist, die zu wesentlicher Kritik innerhalb der eigenen Reihen führen musste und auch geführt hat, was ja nicht ein Einzelschicksal der böhmischen und mährischen Länder ist, sondern in einer ähnlichen Form sich im Laufe der Zeit auch in England, Deutschland, der Schweiz oder Frankreich ergeben hat. Es ist den meisten von Euch sicherlich bekannt, daß das in der sogenannten Hussitenbewegung gegipfelt hat. Professor Jan Hus hat in ähnlicher, aber weit fortschrittlicher Weise als es dann später in Deutschland Luther gemacht hat diese Mißstände scharf kritisiert und ist deswegen einerseits mit der "Amtskirche" und andererseits mit den herrschenden System in diametralen Widerspruch gelangt, was zu dem Ergebnis geführt hat, daß Hus letztlich 1415 am Konzil von Konstanz am Scheiterhaufen verbrannt worden ist. Das ist natürlich nicht ohne Folgen geblieben. Nämlich insoferne, als sich weite tschechische Kreise gegen die "Amtskirche", gegen das herrschende System aufgelehnt haben und dieser Konflikt durch Jahrhunderte nicht hat bewältigt werden können.

Als weitere einschneidende historische Veränderung ist die Übernahme der böhmischen Krone durch die Habsburger im Jahre 1526 festzuhalten. Seither bis in in das Jahr 1918 ist das Staatsgebiet von Böhmen und Mähren, welches sich in seinen Grenzen im wesentlichen unverändert geblieben ist und welches sich eben durch das ausgezeichnet hat, was ich bereits einleitend gesagt habe, nämlich daß die Randgebiete weitestgehend deutsch bevölkert gewesen sind, mehr oder minder von Wien aus regiert wurden. Ich werde auf die sich daraus ergebende Problematik noch im weiteren zu sprechen kommen.

Mit dem Herrschaftsantritt der Habsburger haben sich im Land weitgehende Veränderungen ergeben. Die katholische Kirche, massiv unterstützt durch die Habsburger, hat über die Hussitenbewegung im wesentlichen Oberhand gewonnen und jedweder Versuch, der in der Folge gemacht worden ist, sich gegen diese Habsburg-katholische Herrschaft zur Wehr zu setzen, hat Schiffbruch erlitten. Dies mit einem kurzen Zwischenspiel, als die Habsburger 1618 in Böhmen für abgesetzt erklärt worden sind, jedoch der Rückschlag nicht lange auf sich hat warten lassen, als die böhmischen Stände in der Schlacht am Weissen Berg eine fürchterliche Niederlage erlitten haben, die auch einen hohen Blutzoll gefordert hat .

Dies hat dazu geführt, dass die Herrschaft der Habsburger in Böhmen durch mehrere Jahrhunderte mehr oder minder ungebrochen geblieben ist und sich auch die Bedeutung der deutschen Bevölkerung und Sprache in Böhmen erhöht hat. Dies insoferne, als die Habsburger versucht haben, ihre Herrschaft dadurch zu festigen, daß sie eine Reihe von ihnen willfährigen Familien ins Land geholt haben, die sie mit Ländereien belehnt haben, um den Einfluss der Tschechen weiter zurückzudrängen. So ist z.B. die ja heute noch in der Person des Beraters von Präsident Havel eine nicht unwesentliche Rolle spielende Familie Schwarzenberg zu nennen, die im 17. Jahrhundert zu ihren Ländereien in Tschechien gekommen ist. Woraus im übrigen ersichtlich ist, daß diese irgendwie von ihrem Selbstverständnis her durchaus tschechische Familie - jedenfalls ursprünglich - keineswegs als tschechisch zu verstehen ist, sondern - wie aus dem Namen heraus schon geschlossen werden kann - aus dem Ausland "importiert" worden ist.

Durch die Niederlage in der Schlacht am Weissen Berg im Jahr 1620 sind die Tschechen in ihrem eigenen Land - das Kernland Böhmen und Mähren war von den Städten abgesehen weitestgehend tschechisch bevölkert - zu einer Mehrheit mit Minderheitsstatus geworden. Alle Positionen, die in irgendeiner Weise mit Macht verbunden gewesen sind - nicht nur mit weltlicher Macht, auch mit kirchlicher Macht - und auch das Kulturleben waren im wesentlichen in deutscher Hand bzw. in der Hand derer, die durch Habsburg gelenkt worden sind. Und es hat tatsächlich so ausgesehen, als würde mit der Zeit das tschechische Volk zu einem Volk minderer Bauern und Handwerker herabsinken, während die kulturelle Oberschicht ausschließlich deutsch sein würde.

Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß das sogar zu Fehlinterpretationen des künftigen Werdegangs der Geschichte bei Friedrich Engels geführt hat, der Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint hat, Völker wie die Tschechen hätten keine Zukunft und würden im Deutschtum aufgehen, weil keine historische Notwendigkeit für ihre Existenz und für die Existenz deren Sprachen bestünde. Wir wissen heute, daß das eine der wenigen, aber doch eine kapitale Fehleinschätzung von Friedrich Engels gewesen ist.

Wir haben in unserer Zeitreise, einen Sprung von etwa 250 Jahren gemacht und uns in die Mitte des 19. Jahrhunderts begeben. Nun beginnt ein wesentlicher Einschnitt in der weiteren Entwicklung. Wir wissen, daß der Absolutismus in Österreich - und damit meine ich nicht nur das Kernland, sondern die österreichisch-ungarische Monarchie in ihrer Gesamtheit - im Jahre 1848 trotz der Niederschlagung der bürgerlichen Revolution einen gewaltigen Rückschlag erlitten hat und vieles in Bewegung geraten ist. So auch in den Ländern der böhmischen Krone, also in Böhmen und Mähren. Wesentlich ist, daß sich nunmehr führende geistige Kräfte des tschechischen Volkes der tschechischen Kultur und der tschechischen Geschichte besonnen haben und versucht haben, Bildung und Kultur von der deutschen Sprache loszulösen. Denn bis dahin ist Bildung, die sich jemand über volksschulmäßige Bildung hinaus aneignen wollte, an die Kenntnis der deutschen Sprache gebunden gewesen. Nun haben sich aber in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts führende nationale Kräfte - wie übrigens in anderen Ländern der Monarchie auch - gefunden, um eine nationale Wiedergeburt vorzubereiten. Dies ist sich auch dadurch möglich geworden, weil die ökonomischen und politischen Voraussetzungen andere geworden sind. Diese Entwicklung hat sich in einem entscheidenden Ausmaß nach 1867 verstärkt. Wir wissen, daß es in diesem Jahr zwischen Österreich und Ungarn zu einem Ausgleich gekommen ist. Ähnliche Rechte wie sie Ungarn im Rahmen der Monarchie durch diesen österreichisch-ungarischen Ausgleich erworben hat, waren natürlich auch das Ziel der fortschrittlichen Kräfte in Böhmen und Mähren. Wenn auch ein solcher Ausgleich nicht erreicht werden konnte, so haben sich doch auch in den Ländern der böhmischen Krone wesentliche Veränderungen ergeben. Veränderungen, die einerseits ihre Ursache in einer neuen Gesetzgebung gehabt haben, wie umgekehrt aber natürlich zu sagen ist, daß diese Gesetzgebung auch wiederum auf den geänderten Verhältnissen der Kräfte in der österreichisch-ungarischen Monarchie basiert haben. Von besonderer Bedeutung war, daß neben der deutschen auch die tschechische Sprache als eine Sprache der Monarchie anerkannt worden ist. Das wäre an und für sich kein Problem gewesen, wenn jeder, der in den jeweiligen Bereichen wohnenden Menschen, beide Sprachen beherrscht hätte. Nun war es aber geradezu ausschließlich so, daß zwar die gebildeteren tschechischen Kreise neben dem Tschechischen und allenfalls noch irgendwelcher anderer Fremdsprachen wie z.B. russisch, auch der deutschen Sprache mächtig gewesen sind, während dies im umgekehrten Fall geradezu nie der Fall gewesen ist oder höchstens in ganz wenigen Ausnahmen vorgekommen ist. Was hat das für eine Konsequenz gehabt? Auf Grund, des Artikels XIX des Staatsgrundgesetzes, wonach alle Volksstämme des Staates gleichberechtigt sind und jeder Volksstamm ein unverletzliches Recht auf Wahrung seiner Nationalität und Sprache hat und die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen, Schule, Amt und öffentlichen Leben anerkannt wird vom Staate, ist sukzessive dieses auf dem Papier stehende Recht auch in der Praxis zur Durchsetzung gelangt. Es hat nicht ganz so lange gedauert wie mit dem Artikel 7 des Staatsvertrages, aber es hat auch durch mehrerer Jahre bedurft, bis schließlich entsprechende Verordnungen erlassen worden sind. Eine der wesentlichen hat besagt, daß diejenigen, die sich um ein öffentliches Amt bewerben, im Hinblick darauf, daß jeder, der sich an dieses Amt wendet, in seiner Sprache dort vorstellig werden kann, beide Sprachen zu beherrschen haben. Das ist natürlich dann ein Problem, wenn ein Teil der Bevölkerung sich weigert, die andere Sprache zu lernen. Konsequenz war natürlich, dass erstrebenswerte Ämter ab Inkrafttreten dieser Verordnung von Deutschen geradezu nicht mehr angestrebt werden konnten, weil ihnen eine ganz wesentliche Voraussetzung gefehlt hat, nämlich die Kenntnis der tschechischen Sprache. Während umgekehrt nahezu jeder gebildete Tscheche zumindest diese Voraussetzung mitgebracht hat, weil er ja nicht nur der tschechischen Sprache, sondern auch der deutschen mächtig gewesen ist.

Daraus haben sich erstmals zwischen den Tschechen und Deutschen in Böhmen und Mähren vorwiegend national orientierte Konflikte zu ergeben. Selbstverständlich hat es sich hiebei um Konflikte gehandelt, die auch ihren ökonomischen Hintergrund gehabt haben, aber erstmals sind es hier Konflikte, in deren Vordergrund nationale Fragen stehen. Dies auf dem Boden eines erwachenden tschechischen Nationalismus und eines sich dagegen vehement wehrenden und seine Privilegien mit Händen und Füßen verteidigenden deutschen Nationalismus. Das hat nicht nur während der letzten Jahrzehnte der Habsburger Monarchie seine Auswirkung gehabt, das hat natürlich auch zu wesentlichen Folgen auch während des 1. Weltkrieges geführt. Damals ist seitens des führenden Militärs vielfach die Kampfkraft und der Enthusiasmus der tschechischen Soldaten als nicht ausreichend eingeschätzt worden ist. Oftmals durchaus berechtigterweise, weil eine Vielzahl der Tschechen keine große Begeisterung gehabt hat, für eine Habsburger Monarchie, die als überlebt angesehen werden ist, den Kopf hinzuhalten oder für diese Monarchie zu sterben. Seitens der herrschenden Österreicher ist damals sehr rigide gegen wehrkraftzersetzende tschechische Soldaten vorgegangen worden. Viele Tausende tschechische Soldaten sind standrechtlich oder auch nach Prozessen erschossen worden, gegen Ende des Krieges sind ganze Battaillone zu den Russen übergelaufen.

Daß eine solche Vorgeschichte keine geeignete Grundlage für ein solides und freundschaftliches Nebeneinander von Tschechen und Deutschen in der dann im Oktober 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik gewesen ist, das braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Nachdem durch Jahrhunderte hindurch die Deutschen - jedenfalls in den Randgebieten - geradezu alleine gewesen sind und auch in den Gebieten, wo sie eine krasse Minderheit gewesen sind, das Sagen gehabt haben, war plötzlich mit dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie und mit der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik mit all dem Schluß. Es gab plötzlich vollkommen andere Machtverhältnisse, vollkommen andere Größenordnungen. Die Deutschen waren plötzlich dort, wo sie Jahrhundertelang - wenn auch nicht an Kopfzahl gemessen - Mehrheit gewesen waren, plötzlich in der Tat eine Minderheit. Eine Minderheit, der es, gemessen an den für sie zu Verfügung stehenden Schulen, kulturellen Einrichtungen und ähnlichem mehr, verhältnismäßig gut gegangen ist. Dies aber nur im Verhältnis zu dem, was man vielleicht heute als Minderheitenrecht betrachtet, nicht aber im Verhältnis zu dem, wie eben durch Jahrhunderte hindurch die Kräfteverhältnisse gewesen waren. Dementsprechend war natürlich vom ersten Tag an die Ablehnung der deutschen Bevölkerung gegenüber dieser Tschechoslowakischen Republik vehement.

Wir wissen aus der österreichischen Geschichte, daß die Sudetendeutschen zunächst gar nicht zur Tschechoslowakei wollten, sondern vermeinten, im Rahmen der Republik Deutsch-Österreich zu Hause sein zu können, was allerdings durch die Friedensveträge der Pariser Vororte vereitelt worden ist. Ausgehend davon, daß sich die Sudetendeutschen plötzlich in einer Republik, in einem Staatsgebilde gefunden haben, das sie nicht wollten, war das weitere Zusammenleben von Tschechen und Deutschen von einem schlechten Vorzeichen geprägt.

Dazu kommt - und das muß natürlich auch gesagt werden -, daß sich diese junge Tschechoslowakische Republik in Bezug auf dieses nationale Problem keineswegs sonderlich geschickt verhalten hat. So ist eine Theorie zur Staatsdoktrin gemacht worden, von der man eigentlich damals schon hätte wissen müssen, daß sie unrichtig und weder wissenschaftlich noch politisch haltbar ist. Nämlich die Theorie einer tschechoslowakischen Nation. Man hat fingiert, dass alle Staatsbürger der Tschechoslowakischen Republik, mehr oder minder per Dekret zu einer Nation zusammengewachsen wären. Man hat nicht nur das Problem der Deutschen in den
Randgebieten, man hat auch das Problem weiterer Minderheiten ignoriert, wie z.B. der starken Minderheit der Ungarn in der Slowakei. Damit hat man aber vielleicht auch einen frühen Beitrag für das Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei nach dem Jahr 1989 erbracht, indem vollkommen ignoriert worden ist, daß die Slowaken eben Slowaken und ein eigenes Volk mit eigener Sprache und eigener Kultur sind und nicht nur irgend ein tschechischer Stamm, der einen veralteten tschechischen Dialekt spricht.

Die Haltung zur Minderheitenfrage hat bewirkt, daß sich die Sudetendeutschen durch ein gutes Jahrzehnt mehr oder minder diesem tschechoslowakischen Staat gegenüber sehr passiv verhalten haben. Es hat Jahre gedauert, bis sich die eine oder andere politische Partei im Sudentenland dann doch bequemt hat, diesen Staat als ein Faktum anzuerkennen und auch dann teilweise Regierungsfunktionen zu übernehmen. Aber die nationalen Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen einerseits, zwischen Tschechen und Slowaken andererseits, zwischen Slowaken und Ungarn im Gebiet der heutigen Slowakei die konnten dadurch bestenfalls übertüncht werden. Es nimmt daher nicht Wunder, dass in den 30iger Jahren weite Teile der deutschen Minderheit, wenn auch in der Tat bei weiten nicht alle Angehörigen derselben, mit großer Sympathie über die Grenzen ins Deutsche Reich geschielt haben, in dem seit dem 30. Jänner 1933 bekanntlich Hitler und seine NSDAP die Macht übernommen hatten. Es war zum Teil sogar so, daß man seitens des offiziellen Deutschlands die Sudetendeutschen, die in Richtung eines Anschlusses des Sudetenlandes an Deutschland tätig geworden sind, zunächst zurückgehalten hat, weil man das Anfang der 30iger Jahre aus deutscher Sicht noch nicht für opportun gehalten hat. Aber es haben sudetendeutsche Kräfte wie insbesonders die Sudetendeutsche Partei, nach ihrem Führer auch "Henlein-Partei"
genannt, in diese Richtung gearbeitet. Die Anzahl derer, die ihr Heil in diesen politischen Kräften und in einem Anschluß an das Deutsche Reich gesucht haben, ist unter der deutschen Bevölkerung eine sehr beträchtliche gewesen. Bei den Gemeinderatswahlen 1938 sind von 824000 Stimmen, die von deutschstämmigen Menschen abgegeben worden sind, 750000 für die Henlein-Partei abgegeben worden sind. Das ist immerhin ein Prozentsatz von 91 Prozent!

Ich darf die weitere Geschichte dieser ersten tschechoslowakischen Republik im wesentlichen als bekannt voraussetzen. Wir wissen, daß es am 30. September 1938 zum sogenannten Münchner Abkommen gekommen ist. Einem Abkommen, welches im Grunde genommen ein Diktat gewesen ist. Man hat die Tschechoslowakische Republik mehr oder weniger gezwungen, die sudetendeutschen Gebiete abzutreten und solcher Art auch wesentliche wirtschaftliche Ressourcen dem Deutschen Reich einzuverleiben. Das hat zunächst bei manchen Blauäugigen Hoffnungen gehegt, daß zumindest diese Rest-Tschechoslowakei am Leben bleiben würde. Eine Illusion, die sich sehr rasch als eine solche entpuppt hat. Es hat kein halbes Jahr gedauert, bis die Tschechoslowakei endgültig liquidiert worden ist; nämlich dergestalt, daß sich die Slowakei unter dem Einfluss Deutschlands losgelöst hat und zu einem Vasallenstaat des NS-Reiches geworden ist, während aus dem Rest der Tschechoslowakei das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren gemacht worden ist. Dieses war natürlich im völkerrechtlichen Sinn alles andere als ein Protektorat. Der ganze Akt war schlicht und einfach die Zerschlagung eines ursprünglich souveränen Staates, was natürlich seitens des tschechischen Volkes mit einem ganz gewaltigen Ingrimm verfolgt worden ist.

Ich glaube, daß es müßig ist, heute über die Frage zu sprechen, inwieweit ein bewaffneter Widerstand zielführend sein hätte können. Tatsache ist jedenfalls, daß das Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen und eine gewaltige Terrorherrschaft aufgezogen worden ist, bei der sich der berüchtigte Reichsprotektor Reinhard Heydrich besonders ausgezeichnet hat.

Wenn wir uns hier nur ganz wenige Zitate darüber vor Augen führen, mit welcher Einstellung man seitens Deutschlands an die "Tschechenfrage" herangegangen ist, dann muß man verstehen, daß einem gedeihlichem Zusammenleben zwischen Tschechen und Deutschen der Boden endgültig entzogen worden ist. Ich zitiere beispielweise aus einer Denkschrift des Staatssekretärs beim Reichsprotektor für Böhmen und Mähren Frank: "Das Ziel der Reichspolitik in Böhmen und Mähren muß die restlose Germanisierung von Raum und Menschen sein. Um sie zu erreichen, gibt es zwei Möglichkeiten: Die totale Aussiedlung der Tschechen aus Böhmen und Mähren in ein Gebiet außerhalb des Reiches und Besiedlung des freigewordenen Raumes mit Deutschen. Bei Verbleiben des Großteils der Tschechen die gleichzeitige Anwendung vielfacher Germanisierung dienender Methoden. Eine solche Germanisierung sieht vor die Umvolkung von rassisch geeigneten Tschechen, die Aussiedlung von rassisch unverdaulichen Tschechen und der reichsfeindlichen Intelligenzschicht bzw. Sonderbehandlung dieser und aller destruktiven Elemente. Die Neubesiedlung des freigewordenen Raumes mit frischem deutschen Blut."

Ein gewisser Herr Dr. Hergel, ein Rechtsanwalt aus Reichenberg, in einer ähnlichen
Sudelschrift: "Das Endziel ist ganz klar, wir wünschen das Land als deutsche Erde, sohin das Aufhören des Daseins einer tschechischen Nationalität auf diesem Boden.

Keine verfehlte Humanität Ausrottungstaktik ist geboten."

In einem Memorandum des Deutschen Auswärtigen Amtes heißt es: "Die tschechische Kultur insgesamt, die ganze tschechische Ideologie ebenso wie die tschechische Sprache müssen langsam aber systematisch zurückgedrängt und zum Verschwinden gebracht werden."

Daß sich gegen solche Ideen, wenn man dieses Wort in dem Zusammenhang überhaupt verwenden darf, ein massiver Widerstand erhoben hat, ist geradezu klar. Ob die Widerstandshandlungen politisch immer vernünftig gewesen sind, sei dahingestellt. Ich denke hier insbesondere an das an sich erfolgreiche Attentat auf Heydrich, zu dem Exiltschechen aus England eingeflogen sind, mit dem Flugzeugfallschirm abgesprungen sind und den Reichsverweser dann erschossen haben. Die Folgen waren bekanntlich grausam. Das "Deutsche Reich" bzw. die deutschen Machthaber haben das zum Anlass genommen, die Ortschaft Lidice dem Erdboden gleichzumachen, alle Männer umzubringen, die Frauen und Kinder zu deportieren.

Bereits als sich der Sieg der Verbündeten gegen Hitler-Deutschland abzuzeichnen begonnen hat, haben die Alliierten keinen Zweifel daran gelassen, daß die Tschechoslowakische Republik in ihren alten Grenzen wieder errichtet werden soll. Sehr bald war in den Verhandlungen eine Tendenz zu ersehen, dass diese tschechoslowakische Republik ein Staatsgebilde im wesentlichen ohne deutsche Minderheit sein sollte. Die Aussiedlung der Deutschen war also keine tschechische Erfindung!

In den ersten Mai-Tagen des Jahres 1945 kommt es zum Prager Aufstand, die Ordnung der deutschen Machthaber wird beseitigt. Ehe es zu einer neuen staatlichen - tschechoslowakischen - Ordnung kommt, dauert es aber noch geraume Zeit. In dieser ziemlich chaotischen Situation ist es einer Vielzahl zu spontanen Handlungen der tschechischen Bevölkerung gegenüber Deutschen gekommen, die im wesentlichen auf teils gesundem, teils vielleicht nicht ganz so gesundem Volksempfinden beruht haben und die der wieder entstehende tschechoslowakische Staat in geregelte Bahnen hat lenken müssen. Es ist unzutreffend wie es gelegentlich dargestellt wird, daß die ersten Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung im Mai 1945 auf staatliche Anordnung erfolgt wären. Ebenso stimmt es nicht, daß antideutsche Exzesse unter der Führung der Kommunistischen Partei gestanden wären. Vielmehr ist es so, daß die sich herausbildende neue Staatsmacht auf die gegebene Situation hat reagieren müssen, um Ordnung zu schaffen. Dies ist im wesentlichen mit den sogenannten"Benes-Dekreten" geschehen.

Zu diesen ist festzuhalten, daß nur ein Bruchteil derselben überhaupt die Fragen betrifft, die in irgend einem Zusammenhang mit der Aussiedlung, Enteignung, vielleicht auch mit der Ermordung gewisser Menschen deutscher Abstammung etwas zu tun haben. Im Grunde genommen ist es nur eine Handvoll von Dekreten, die mit dem Thema, welches heute wiederum die Menschen so interessiert, irgend etwas zu tun haben. Und sie sind, um es noch einmal zu sagen, Dekrete, die den historischen Ereignissen Rechnung getragen haben und teilweise auch das, was passiert ist, nachträglich gerechtfertigt haben. Es ist natürlich aus heutiger Sicht bedenklich, wenn der Präsident der Tschechoslowakischen Republik in einem dieser Dekrete mehr oder minder eine Generalamnestie für alle Maßnahmen ausspricht, die mit einem ohnehin damals nicht existenten gesatzten Recht im Widerspruch stehen könnten. Es ist aus heutiger Sicht sicher problematisch, wenn man feststellt, daß damit in diesen Dekreten mehr oder weniger alles über einen Kamm geschoren worden ist; z.B., wenn man per Dekret mehr oder minder alle Bevölkerungsteile deutscher oder ungarischer Nationalität hier enteignet und dann nur in irgend einem weiteren Absatz sagt, daß jemand, der nachweisen kann, daß er sich in überhaupt keiner Weise am tschechoslowakischen Volk vergriffen hat, davon ausgenommen wird. Eine solche Gesetzgebung wäre in einem funktionierenden Rechtsstaat nicht gut möglich. Doch die "Benes-Dekrete" sind nicht im Rahmen eines gefestigten Rechtsstaates gesetzt worden, sondern in einer Situation, wo es drunter und drüber gegangen und darum gegangen ist, eine dauerhafte Ordnung zu schaffen.
Ich finde es bemerkenswert, wenn man sich heute rund 55 Jahre später plötzlich in Österreich oder in Deutschland wiederum für den Teil der Benes-Dekrete interessiert, der dazu geführt hat, daß die Deutschen aus der Tschechoslowakei vertrieben worden sind. Seltsamer Weise wird das gleichartige Problem, nämlich das der Vertreibung einer hohen Anzahl Angehöriger ungarischer Nationalität aus der Slowakei in keiner Weise diskutiert, obwohl von einer grundlegend gleichen Situation auszugehen ist. Woraus für mich der Rückschluß zulässig erscheint, daß es hier keineswegs darum geht, ein Unrecht in irgendeiner Weise zu diskutieren, sondern sehr wohl darum geht, auf der Basis der Aufhebung der Benes-Dekrete zu erwirken, das, was dereinst irgendwelchen Deutschen weggenommen worden ist, diesen wieder zukommen zu lassen.

Es ist nämlich vom rechtlichen Standpunkt eine Illusion zu meinen, man könne jetzt sagen: "Gut, die Benes-Dekrete sind heute nach 55 Jahren noch immer ein Unrecht. Die Tschechische Republik einerseits und Slowakische Republik andererseits sollen diese Dekrete jetzt aufheben und das war es dann."

Denn sollten diese Dekrete formell per Gesetz aufgehoben werden, dann bedeutete
das ja nichts anderes, als das diese Dekrete rückwirkend ausser Kraft gesetzt werden. Das bedeutete aber weiters, daß jedwede Enteignung, jedwede Maßnahme zu Unrecht erfolgt wäre, so daß Ersatzansprüche geltend gemacht werden könnten. Und die Tschechische wie auch die Slowakische Republik könnten nicht einmal die Einrede der Verjährung entgegenhalten, weil die Ansprüche deswegen nicht verjährt sein können, weil sie durch 55 Jahre scheinbaren Inkraftseins dieser Dekrete nicht verfolgt werden hätten können. Das heißt, es ist wenn wir das mit den Augen des Juristen betrachten, verlogen oder vollkommen blauäugig zu meinen, daß es nur darum gehe, Tschechien und die Slowakei erklärten, daß die Dekrete unrecht gewesen seien und sie aufheben, womit die Sache erledigt wäre. Vielmehr ginge es dann erst richtig los. Es ist wohl verständlich, daß sich die Tschechische Republik und auch die Slowakei auf so etwas, was geradezu nicht administrierbar und nicht finanzierbar ist, nicht einlassen können. Es ist daher verständlich, daß geradezu alle politischen Kräfte Tschechiens auf dem Standpunkt stehen, daß über dieses Thema nicht gesprochen werden kann. Einfach weil es für die Tschechische Republik nicht verkraftbar wäre, würde man jetzt diese Benes-Dekrete aufheben und damit rückwirkend für ungültig erklären. Das heißt nicht, daß man leugnen sollte, daß auf Basis dieser Dekrete manches geschehen ist, was objektiv betrachtet als Unrecht zu bezeichnen ist. Das bedeutet auch nicht, daß wir unsere Augen davor verschließen, was alles geschehen ist, was in keinem Gesetz und in keinem der Benes-Dekrete Deckung findet. Wir sollten auch nicht die Augen davor verschließen, daß sicherlich der eine oder andere, der sich politisch in keiner Weise betätigt hat, draufgezahlt hat, schlicht und einfach nur deswegen, weil er deutscher Muttersprache, gewesen ist.

Daß es solche Einzelschicksale durchaus gegeben hat, sollte man nicht bestreiten und in der Diskussion auch durchaus nicht das Auge davor verschließen. Aber das ändert nichts daran, daß es aus historischen und auch aus wirtschaftlichen und politischen Gründen vollkommen ausgeschlossen ist, daß Tschechien oder die Slowakei diese Benes-Dekrete einfach für obsolet erklärt.

Es gibt noch eine Fülle von Facetten zu diesem Thema, die von Bedeutung sind. So gäbe es interessante Detailfragen wie gewisse Unterschiede zwischen den Sudetendeutschen im eigentlichen Sinn und den sogenannten Altösterreichern oder auch gewisse Probleme, die sich aus Grenzverschiebungen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei nach 1918 ergeben haben. Das aber würde den Rahmen hier bei weitem sprengen und muß daher der Diskussion vorbehalten werden.

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