Die Oktoberrevolution und Österreich
Wenn man über die Oktoberrevolution und ihre Auswirkungen auf Osterreich
spricht, dann ist es neben der Darstellung- der unmittelbaren Zusammenhänge
notwendig, zunächst den Blick zu weiten und den Geschichtsablauf
gewissermaßen aus der Vogelperspektive zu betrachten. Nur so, fernab
von der Enttäuschung der einen und der Freude der anderen über das
Verschwinden des Erbes der sozialistischen Umwälzung des Jahres
1917, kann ein Phänomen wie die Oktoberrevolution heute angemessen
bewertet und historisch eingeordnet werden.
l.
Revolutionen sind seltene Erscheinungen in der Menschheitsgeschichte,
und erfolgreiche Revolutionen noch seltenere. Niemand, ausgenommen
Ignoranten, wird aber zu bestreiten wagen, daß sie es sind, die
die Historie entscheidend prägen. Ihre Wirkungen haben sich in den
Jahrhunderten seit dem Beginn der Neuzeit, angefangen mit der frühbürgerlichen
Revolution des deutschen Bauernkrieges, in stetig wachsendem Maße
verstärkt, und die Abstände, in denen sie aufeinander folgten, sind
immer kürzer geworden. Wir müssen uns bewußt sein, daß „wir uns
nach wie vor in einem weltgeschichtlichen Zeitalter revolutionärer
Umwälzungen befinden. Und wir a s Marxisten sind davon überzeugt,
daß die Perioden des Rückschlags, wie wir jetzt eine erleben, Zeiten,
in denen die Herrschenden, die Kräfte der Beharrung scheinbar wieder
triumphieren und sich fest im Sattel sitzend wähnen, auch dann,
wenn sie Generationen dauern mögen, nur Zwischenspiele sind auf
dem Weg neuer Anläufe, den Epochenübergang vom Kapitalismus zum
Sozialismus zu vollenden. Optimistisch können wir trotz allem sein,
weil die Geschichte gezeigt hat, daß Revolutionen die notwendige
und unvermeidliche Folge von bestimmten Gesellschaftsstrukturen
sind, die ihrerseits in ökonomischen Verhältnissen, im Kern in den
Eigentumsverhältnissen, wurzeln. Revolutionen sind folglich keine
„Betriebsunfälle“ der Geschichte, sondern sozusagen „normale“ Vorgänge,
da durch sie und nur durch sie die grundlegenden Widersprüche gelöst
werden können und der Übergang zu höheren Gesellschaftsformationen
bewirkt werden kann.
II.
Der Preußenkönig Friedrich II. hat einmal bei einem Parademanöver
seiner Truppen dem kommandierenden General, als der die bewundernswerte
Exaktheit der Bewegungen der Soldaten und das marionettenhafte Befolgen
aller Befehle herausstrich, zur Antwort gegeben: „Nicht dies, sondern
daß die Kerle uns nicht totschießen, 'ist das Merkwürdigste.“ Das
Rätsel ist also nicht, warum Revolutionen ausbrechen, sondern warum
Menschen generationenlang die Zustände ertragen, gegen die sie schließlich
aufstehen. Eine Erklärung dafür findet sich unvermutet in Umberto
Ecos Roman „Der Name der Rose“, in dem es an einer Stelle heißt:
„Denn nur die Mächtigen wissen immer genau, wer ihre wahren Feinde
sind.“ Der Satz enthält eine tiefe Wahrheit. Er gibt uns Antwort
darauf, warum erfolgreiche Revolutionen so selten sind, warum so
viele Aufstände, Empörungen, Revolten in der Vergangenheit verpufften
und scheiterten, ihre Träger sich täuschen und übertölpeln ließen,
warum auch die meisten Revolutionen nicht bis zum Ende, bis zur
letzten Konsequenz durchgefochten wurden und auf halbem Weg stehenblieben.
Nur in wenigen Fällen paarte sich der objektive Faktor mit dem subjektiven,
erwiesen sich die Revolutionäre als stärker, entschlossener, schlauer
und unerbittlicher als ihr Widerpart und bereiteten ihm eine vernichtende
Niederlage: 1789 in Frankreich und 1917 in Rußland, Revolutionen,
denen deshalb zu Recht das Attribut „groß“ verliehen wird.
Die Revolution, die am 7. November 1917 in Rußland siegte, war
eine sozialistische Revolution. Ihre Ursachen sind nicht erklärbar,
wenn man sich nicht vor Augen hält, was vorher geschah und wogegen
sie sich wandte. Die imperialistischen Bourgeoisien der Großmächte,
für die es - wie Karl Kraus es einmal ausdrückte - „zuzeiten notwendig
ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen
wieder Absatzgebiete werden“, hatten im August 1914 die Menschheit
in eine noch nie dagewesene Katastrophe gestürzt. Es war ein Krieg
im Interesse der nach Expansion gierenden ökonomischen Eliten gegen
die Interessen der Volksmassen, in dem der dem Imperialismus innewohnende
Drang nach Gewalt, seine Brutalität und Menschenverachtung orgiastisch
zum Ausbruch kam. Die Oktoberrevolution war der Versuch, diesen
Zustand zu beenden, den Teufelskreis von Ausbeutung, Imperialismus
und Krieg zu durchbrechen und die Grundlagen einer gesellschaftlichen
Ordnung, die Derartiges hervorgebracht hatte, aus der Welt zu schaffen.
Gerade darin bestand ihre internationale Bedeutung. Gerade dadurch
blieb ihre Wirkung nicht auf Rußland beschränkt, sondern strahlte
über die Grenzen hinweg in andere Länder aus. Eines dieser Länder
war Osterreich, und es wurde besonders tief und nachhaltig von den
Ereignissen in Rußland beeinflußt.
III.
Bekanntlich hat Rußland zwischen 1 905 und 1917 nicht weniger als
drei Revolutionen erlebt. Schon die erste Revolution des Jahres
1905 hatte auf Osterreich eine stärkere Wirkung ausgeübt a s auf
andere europäische Länder. Das war so, weil die innere Lage im Zarenreich
der in der Habsburgermonarchie ähnelte. Beide waren Vielvölkerstaaten,
in denen das herrschende Volk, das „Staatsvolk“, ökonomische wie
politische Privilegien genoß und die nationalen 'Unabhängigkeitsbestrebungen
der anderen Völkerschaften niederhielt. In beiden Ländern behaupteten
sich hartnäckig überkommene feudale Strukturen, war der obrigkeitsstaatliche
Charakter des Regimes besonders ausgeprägt. Der revolutionäre Funke
aus Rußland sprang daher auf einen Boden, der sich hier leichter
entzündete als anderswo. Eine große Massenbewegung der Arbeiterschaft,
ausgelöst von der russischen Revolution, erzwang damals in Osterreich
die Einführung des allgemeinen Wahlrechts.
Größer und tiefgreifender war der Einfluß der zweiten russischen
Revolution des Februar (März) 1 91 7, die die zaristische Selbstherrschaft
stürzte. Auch sie traf in Osterreich erneut auf Bedingungen, die
ihre revolutionierende Wirkung ermöglichten und besonders verstärkten.
Der erste Weltkrieg hatte alle Gegensätze, die im Habsburgerreich
seit langem bestanden, extrem verschärft. Die Massen litten im dritten
Kriegsjahr an katastrophalem Lebensmittelmangel, Teuerung und Desorganisation
der Versorgung sowie an der Knebelung ihrer Rechte, die sich in
der Beseitigung des Parlaments, der Unterstellung kriegswichtiger
Betriebe unter militärisches Kommando und Ausdehnung der Militärgerichtsbarkeit
auf alle' politischen Delikte äußerte. Die nationalen und sozialen
Spannungen spitzten sich im berüchtigten Hungerwinter 1916/17 immer
mehr zu. Aus dem Krieg, in dem die herrschenden Klassen in Osterreich
die Möglichkeit gesehen hatten, einen Ausweg aus ihren wachsenden
Schwierigkeiten zu finden und sozial- wie nationalrevolutionäre
Bestrebungen ein für allemal zu unterdrücken, war für Österreich-Ungarn
ein Kampf auf Leben und Tod geworden, in dem nicht nur der Thron
der Habsburger und die Existenz des multinationalen Staates selbst
schon auf dem Spiel stand, sondern darüber hinaus bereits der Bestand
des Systems imperialistischer Herrschaft schlechthin.
In diese Situation platzte die Nachricht vom Sturz des Zaren und
vom Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland, der
die den Krieg bereits gründlich hassenden werktätigen Massen aufhorchen
ließ. Zeigte ihnen das russische Beispiel doch, daß es auch unter
den Bedingungen eines kriegsdiktatorischen Regimes möglich war,
die Dynasten zu verjagen und demokratische Freiheiten zu erkämpfen,
wenn man sich auf seine eigenen Kräfte besann. Es war daher nur
folgerichtig, daß die seit Kriegsbeginn durch die verlogenen Losungen
von der „Vaterlandsverteidigung“ und vom „Burgfrieden“ desorientierten
österreichischen Arbeiter in Bewegung kamen und im Gefolge der nun
einsetzenden großen Streikaktionen ihr Selbstbewußtsein zurückgewannen.
Die Parolen „Machen wir es so wie in Rußland!“ und „Wir müssen mit
unseren Herrschenden auch 'russisch' reden!“ wurden unter ihnen
populär.
IV.
Lehrreich ist nun, wie die herrschenden Schichten in Osterreich
auf die Zusammenballung der Widersprüche zu einer revolutionären
Krise reagierten. Bis dahin hatte sich das Proletariat gegenüber
der Bourgeoisie in einer äußerst ungünstigen Lage befunden. Das
Kapital übte auf der ganzen Welt die Macht aus, in seinen Händen
befanden sich die durch jahrhundertelange Traditionen geheiligten
Instrumente zur Durchsetzung und Behauptung der Herrschaft. Das
Proletariat hingegen war nicht nur eine ökonomisch ausgebeutete,
sondern auch eine erniedrigte, materiell und geistig benachteiligte
Klasse gewesen. Damit war es schon mit der russischen Februarrevolution
des Jahres 1917 vorbei. Jetzt begann sich das Kräfteverhältnis zwischen
den einander feindlich gegenüberstehenden Hauptklassen zugunsten
des Proletariats zu verändern. Es ging zum Angriff über und drängte
die Bourgeoisie in die Defensive. Die kaiserliche Regierung sah
sich somit im Frühjahr 1917 gezwungen, zu lavieren, die Linie des
„harten“ Kriegsabsolutismus zu verlassen, einen flexibleren Kurs
einzuschlagen und den Massen eine Reihe von Zugeständnissen zu machen.
Das österreichische Parlament wurde nach dreijähriger Zwangspause
wieder einberufen und eine Amnestie für politische Häftlinge verkündet.
Man gestand den Arbeitern in den militarisierten Betrieben der Rüstungs-
und Schwerindustrie die Bildung von „Beschwerdekommissionen“ zu,
gewährte Lohnerhöhungen und soziale Verbesserungen. Dazu zählten
der Mieterschutz, das Verbot der Nachtarbeit im Bäckergewerbe, die
Erhöhung der Krankengelder und Unterhaltsbeiträge und anderes mehr.
In einzelnen Betrieben gründeten die Arbeiter im Frühjahr 1917 spontan
„Fabrikausschüsse“ mit dem Ziel, eine gerechtere Verteilung der
Lebensmitte zu erreichen. Das war der erste Versuch, nach dem Vorbild
der russischen Sowjets den Rätegedanken - so wie ihn die Arbeiter
mangels genauer Information damals verstanden - auf österreichische
Verhältnisse zu übertragen und auf einem Teilgebiet, dem der Lebensmittelversorgung,
die unfähigen und durch Korruption schon zersetzten staatlichen
Organe durch Organe der Arbeiter zu ersetzen.
V.
Am größten war jedoch die Wirkung der dritten russischen Revolution,
der sozialistischen Oktoberrevolution. Denn sie zeigte, daß es der
Arbeiterklasse möglich war, die Macht zu erobern. Sie erst hat den
von den Volksmassen in allen kriegführenden Ländern so heißersehnten
Friedensschluß in den Bereich des Realisierbaren gerückt. Und sie
hat schließlich demonstriert, daß die Sowjets, daß Arbeiter- und
Soldatenräte nicht nur Kampforgane zur Erringung vermehrter Mitspracherechte
sein können, sondern auch Machtorgane, Träger einer proletarischen
Staatsmacht.
Die Revolution der Bolschewik! hatte in Osterreich die Sympathie
der Werktätigen, weil sie die Losung „Frieden“ auf ihren Fahnen
trug, die in der damaligen Situation die weitaus stärkste Triebkraft
für jede Massenbewegung war. Gleichzeitig spornte sie innerhalb
der klassenbewußten Arbeiterschaft den revolutionären, sozialistischen
Kampfgeist enorm an. Das äußerte sich bereits auf der großen Friedenskundgebung
der österreichischen Sozialdemokratie, die am 1 1 . November 1 91
7 im Wiener Konzerthaus und auf dem benachbarten Platz des Eislaufvereins
stattfand. Die Arbeiter waren mit Transparenten zum Konzerthaus
gezogen, mit Aufschriften wie:
„Gebt uns den Frieden wieder, sonst legen wir die Arbeit nieder“,
„Wir wollen Frieden und Brot“, „Nieder mit den Kriegshetzern“ und
„Wir wollen den sozialistischen Verständigungsfrieden“. Die Versammlung
selbst lief in erregter Atmosphäre ab. So oft die sozialdemokratischen
Redner das Wort „russische Revolution“ auch nur in den Mund nahmen,
ertönten brausende Hochrufe, und sie wurden mit Beifall und Rufen
wie „Revolution!“, „Wir kommen wieder!“ und „Generalstreik!“ überschüttet.
Nach Schluß der Kundgebung zogen Gruppen von Arbeitern durch die
Innere Stadt und riefen „Nieder mit dem Krieg!“, „Nieder mit dem
Militarismus!“, „Heraus mit dem demokratischen Frieden!“ und „Hoch
die russische Revolution!“
Die Begeisterung der österreichischen Arbeiter über den Sieg ihrer
russischen Klassengenossen, ihr wiedergewonnenes Selbstbewußtsein,
ihre Mobilisierung und Aktivierung brachte neben den vorhandenen
Widersprüchen ein neues gegensätzliches Moment aufs Tapet. Weil
die sozialdemokratische Parteiführung auch nach der russischen Oktoberrevolution
der kaiserlichen Regierung ihre Unterstützung lieh und damit außerstande
war, die Hoffnung der Arbeiter nach Ingangsetzen kraftvoller Antikriegsaktionen
einzulösen, kam es zwischen ihr und den nun in Aufbruchstimmung
befindlichen Arbeitermassen zur Kollision. Die innere Krise in Osterreich
verschärfte sich rapide und ging Ende Dezember 1917 unter dem Eindruck
der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk in eine akut revolutionäre
Situation über. Da sich die Verhandlungen von Brest, die in der
„Arbeiter-Zeitung“ im Wortlaut nachzulesen waren und die von den
österreichischen Arbeitern mit höchster Spannung verfolgt wurden,
durch die erpresserischen annexionistischen Aspirationen Deutschlands
noch dazu unerwartet in die Länge zogen, stieg in Osterreich die
Unruhe von Tag zu Tag.
VI.
Am 14.Jänner 1918 kam es zur Explosion. In Wiener Neustadt legte
die Belegschaft der Daimler-Motoren-Werke die Arbeit nieder. Binnen
weniger Tage weitete sich der Streik auf ganz Osterreich aus. Am
Höhepunkt der Bewegung, am 1 9. Jänner, befanden sich in der Habsburgermonarchie
750.000 Arbeiter im Ausstand (in Osterreich einschließlich Krakau,
Brunn, Mährisch-Ostrau und Triest 550.000, in Budapest und anderen
ungarischen Städten 200.000). Der Jännerstreik war nicht nur die
bedeutendste revolutionäre Streikaktion in der gesamten Geschichte
der österreichischen Arbeiterbewegung, nicht nur ein durch und durch
politischer Streik, ein Streik für den Frieden, sondern darüber
hinaus der Höhepunkt der sozialen und politischen Konfrontation
zwischen den herrschenden Klassen und den Volksmassen in Osterreich.
Bis zum Ende des ersten Weltkrieges war er neben der russischen
Revolution die größte Erhebung der Arbeiterschaft in ganz Europa.
Überall bildeten sich nach russischem Vorbild Arbeiterräte zur Führung
des Ausstandes. Im Jänner 1 91 8 waren die objektiven Bedingungen
für eine revolutionäre Veränderung herangereift, der kaiserliche
Herrschaftsapparat, ja das gesamte Gesellschaftssystem standen am
Rande des Abgrundes. In einem von Kaiser Karl an Außenminister Graf
Czernin am 1 7. Jänner nach Brest-Litowsk gesandten Telegramm hieß
es:
„Ich muß nochmals eindringlichst versichern, daß das ganze Schicksal
der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluß
in Brest-Litowsk abhängt... Kommt der Friede nicht zustande, so
ist hier die Revolution, auch wenn noch so viel zu essen ist. Dies
ist eine ernste Warnung in ernster Zeit.“ Nur aufgrund der intensiven
Bemühungen der sozialdemokratischen Parteispitze, gegen deren Willen
der Ausstand ausgebrochen war und die den Kampf um die Staatsmacht
nicht zu führen gewillt war, gelang es entgegen heftigen Protesten
der Arbeiter, die grandiose Streikbewegung beizulegen und sie auf
papierene Kompromißergebnisse zu begrenzen. Diese ernüchternde Erfahrung
war für die revolutionären Kräfte der entscheidende Anstoß, mit
dem Reformismus zu brechen und eine neue, eine kommunistische Partei
zu gründen, die am 3. November 1918 ins Leben trat.
VII.
Das Fanal der Oktoberrevolution fand auch in den Streitkräften
Österreich-Ungarns tiefen Widerhall. Die Soldaten an der Ostfront
weigerten sich, weiterzukämpfen, und verbrüderten sich mit ihren
russischen Kameraden. Österreichische Kriegsgefangene in Rußland
erklärten sich bereit, die Sowjetmacht in ihrem Kampf gegen die
innere und äußere Konterrevolution zu unterstützen und wurden Kommunisten.
Zu innen zählten Persönlichkeiten wie Johann Koplenig, Gottlieb
Fiala, Karl Tomann, Heinrich Brodnig, Walter Kersche, Josef und
Anna Grün, die nach ihrer Heimkehr in der KPÖ an führender Stelle
tätig waren. Im Februar 1918 kam es zum Aufstand der Matrosen von
Cattaro, deren Ziele von den Prinzipien der Oktoberrevolution (demokratischer
Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, Erklärung des Selbstbestimmungsrechts
der Völker bis zum Recht auf Bildung eigener, unabhängiger Staaten)
stark beeinflußt waren. Im Mai 1918 meuterten in mehreren Garnisonen
Österreich-Ungarns Ersatztruppenkörper der kaiserlichen Armee, deren
Träger, fast durchwegs aus Rußland heimgekehrte Kriegsgefangene
und - wie es in einer Kundmachung des Generalobersten Rhemen hieß
- „von den bolschewikischen Ideen so besessen, daß sie den seiner
Majestät geleisteten Treueeid schmählich vergaßen“, standrechtlich
erschossen wurden.
VIII.
Wenn man von den Auswirkungen der Oktoberrevolution auf Osterreich
spricht, so wäre es primitiv und falsch, sich darunter einen „Export
der Revolution“ in Form von „Zersetzungsarbeit“ irgendwelcher Agitatoren
vorzustellen. Der revolutionäre Aufschwung in Osterreich in den
Jahren 1917 und 1 91 8 war das Ergebnis der Zuspitzung aller Widersprüche
im Inneren unseres Landes, die unabhängig vom Wunsch oder Willen
einzelner Personen, Parteien oder Klassen erfolgte. Die Wirkung
der sozialistischen Oktoberrevolution bestand darin, daß sie die
bereits vorhandene Krise in Osterreich verstärkte und den Kampf
der Arbeiter auf eine neue, qualitativ höhere Stufe hob. Der Einfluß
blieb daher nicht auf die Tage und Wochen nach dem 7. November 1
91 7 beschränkt, sondern erstreckte sich über einen längeren Zeitraum,
im Grunde genommen und unmittelbar ablesbar bis zum Ende der revolutionären
Nachkriegskrise in Osterreich im Herbst 1 920. Ohne das russische
Revolutionsbeispiel und die ebenso vom sozialrevolutionären Impetus
getragenen Räterepubliken in Ungarn und München des Frühjahrs 1919,
die wie Damoklesschwerter über den besitzenden Klassen schwebten
und sie zu Zugeständnissen zwangen, wären die wesentlichen politischen
und sozialen Errungenschaften der Umwälzung in Osterreich in dem
Umfang und der Tiefe nicht möglich gewesen - als da waren: Ausrufung
der Republik, Erweiterung der demokratischen Rechte für die Volksmassen,
starke Stellung der Arbeiter- und Soldatenräte, Achtstundentag,
Arbeitslosenunterstützung, Arbeiterurlaubsgesetz, Betriebsrätegesetz,
Gründung der Arbeiterkammern.
IX.
Es ist in dem Rahmen nicht möglich, auf jene Wirkungen einzugehen,
die in der Epoche danach der zum Staat und nach 1945 zum Staatensystem
gewordene Sozialismus auf die Welt und auf Osterreich ausübte. Sie
waren höchst bedeutsam, und ihr Gewicht wird einem umso mehr bewußt,
seit dieses System als gesellschaftliche Alternative, die die Gegenwelt
des Kapitals ernst nehmen mußte, nicht mehr existiert. Es eröffnete
den arbeitenden Menschen bei uns umfangreiche, bis dahin nicht dagewesene
und nicht gekannte Möglichkeiten für die Verteidigung ihrer Lebensinteressen
und ließ ihnen soziale Errungenschaften zukommen, die ohne diese
Systemkonkurrenz undenkbar gewesen wären. Was seit einigen Jahren
zu verzeichnen, ist, gegenwärtig geschieht und künftig bei uns sich
fortsetzen wird, die immer vehementer und dreister betriebene Demontage
dieser ökonomisch-materiellen Zugeständnisse, der Rückbau des sogenannten
„Sozialstaates“, bliebe unverständlich ohne den Fortfall des realen
Sozialismus.
Wenn wir uns heute eingestehen müssen, daß der erste Anlauf einer
sozialistischen Umwälzung letztlich scheiterte, dann heißt das nicht,
daß er der letzte war. Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus
dauerte Jahrhunderte und benötigte mehrere revolutionäre Anläufe.
Alles spricht dafür, daß es sich beim Übergang zum Sozialismus genauso
verhält, und nichts spricht dagegen, warum es ausgerechnet hier
ein „einmal und nie wieder“ geben soll. Die Perpetuierung des jetzigen
Zustandes wird früher oder später die Suche nach einem grundsätzlichen
Systemwechsel wieder auf die Tagesordnung setzen, wobei klar ist,
daß sich die Methoden, Strukturen und Abfolgen revolutionärer Veränderungen
künftig im Vergleich zu früher beträchtlich unterscheiden werden.
Der 7. November 1917 in Rußland als Ergebnis einer konkreten historischen
Situation wie politischen Konstellation ist in der Art, wie er über
die Bühne ging, nicht wiederholbar. Sein Inhalt wird aber weiterhin
historischen Bestand haben, weil ohne einen politischen Machtwechsel,
ohne die Überführung der Schlüsselpositionen der Wirtschaft aus
dem privatkapitalistischen Besitz in das Eigentum des Volkes, der
Produzenten, an eine echte antikapitalistische Alternative, eine
Überwindung der Klassenteilung nicht zu denken ist.
Die Oktoberrevolution von 1917 war der erste und bisher bedeutendste
Anstoß für eine antikapitalistische, eine sozialistische Alternative.
Eine Würdigung ihrer epochalen Bedeutung muß die Kritik ihrer Mängel,
Unterlassungen und Deformationserscheinungen einschließen, sie muß
aber auch ihren gewaltigen Schatz an Erfahrungen und positiven Errungenschaften
für ein künftiges Ringen um eine sozialistische Perspektive auswerten.
Nur durch deren Aneignung und Einfließen in das Traditionsverständnis
wird es heute und in Zukunft linken, emanzipatorischen, fortschrittsbewußten
Kräften möglich sein, das . fortzuführen, wofür vor achtzig Jahren
der Grundstein gelegt wurde.
- Referat von Univ.Prof. Dr. Hans Hautmann auf dem Symposium „80
Jahre Oktoberrevolution“ Wien, 8. November 1997
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