Stalins
langer Schatten
KPÖ-Vorsitzender Walter Baier über die Auseinandersetzung seiner
Partei mit der stalinistischen Erblast: Eine Erwiderung auf Konrad
Paul Liessmann (Die Linke und der rote Terror, STANDARD, 6. Dezember).
Das Buch verdient gelesen und überdacht zu werden, schrieb die
Volksstimme über Stéphane Courtois "Schwarzbuch des Kommunismus",
das demnächst auf deutsch erscheint. Konrad Paul Liessmann braucht
nichts zu überdenken. Sein Urteil über den Weltkommunismus und dessen
geistige Komplizen, linke und liberale Intellektuelle, stand fest,
bevor Courtois' Anklageschrift auszugsweise im Spiegel zu lesen
war.
Auf welche Widersprüche eine nicht durch Dogmen determinierte Beschäftigung
mit Geschichte stoßen kann, gibt indes der heutigen KPÖ, die sich
erneuern will, Stoff zum Überdenken und zur inneren Auseinandersetzung.
So die Tatsache, daß nicht wenige der Menschen, die sich der Partei
in den 20er und 30er Jahren angeschlossen hatten, ins Räderwerk
des stalinistischen Terrors geraten waren, darunter nicht weniger
als 16 Mitglieder des ehemalgen Parteivorstands bzw. Zentralkomitees.
1991 veröffentlichten Barry McLoughlin und Walter Szevera auf Anregung
der damaligen KPÖ-Vorsitzenden auf Grundlage aus der UdSSR zur Verfügung
gestellter Akten, Daten zu 150 Stalin-Opfern (McLoughlin, Szevera,"Postum
rehabilitiert"). Inzwischen hat die KPÖ
(Stand April 1997) Angaben über das Schicksal von weiteren 328 Österreicherinnen
und Österreichern aus Rußland erhalten. Eine Dokumentation über
die KPÖ-Bemühungen zur Aufklärung des Schicksals österreichischer
Opfer des Stalinismus ist in Vorbereitung.
Courtois und Liessmann, die beide den Kommunismus als Jahrhundertverbrechen
neben den Nazismus stellen, kennen ausschließlich die Täter. Die
andere Seite, die der kommunistischen Opfer des Stalinismus, paßt
nicht in dieses Bild und existiert für sie auch nicht. Sollten aber
ausgerechnet diese, von denen viele an ihrer Überzeugung festgehalten
hatten, mit weniger Recht als KommunistInnen gelten als ihre Peiniger
und Verfolger? Aus dieser Fragestellung leitete die KPÖ-Führung,
oder besser gesagt ein Teil von ihr, bereits Mitte der 50er Jahre
eine moralische Verpflichtung ab, gegenüber den sowjetischen Behörden
die Forderung nach Rehabilitierung zu erheben, unabhängig davon,
ob die Opfer der Partei angehört hatten oder nicht.
Interne Widerstände
Dem langjährigen Parteivorsitzenden Muhri ist zu danken, daß die
Problematik all die Jahre in den Kontakten zwischen sowjetischer
und österreichischer KPÖ immer wieder releviert wurde. Dabei war
die Stalinismus-Forschung auch in der KPÖ schwierig. Noch Anfang
der 90er Jahre zerfiel eine mit dem Thema befaßte Arbeitsgruppe
aufgrund inakzeptabler interner Widerstände und eskalierender Meinungsunterschiede.
Zwei der Mitarbeiter entschlossen sich, die Thematik außerhalb der
KPÖ zu bearbeiten. Ihre umfangreiche Arbeit ist inzwischen im Verlag
für Gesellschaftskritik erschienen (McLoughlin, Schafranek, Szevera,
"Aufbruch, Hoffnung, Endstation").
Stéphane Courtois beziffert die weltweiten Opfer des Kommunismus
mit 85 Millionen Menschen. Diese Zahl, die geradezu zum Vergleich
mit dem Nazismus geschaffen scheint, ergibt sich aus der Zusammenzählung
aller direkten und indirekten Opfer von Bürgerkriegen, Umsiedlungen
und Hungersnöten in der UdSSR und China, dem Genozid in Kambodscha
mit den Opfern von Exekutionen und Schauprozessen in Osteuropa.
Ich frage mich nach dem Zweck einer solchen Rechnung. Wäre denn
die Bilanz selbst wenn man von den niedrigsten heute zugänglichen
Zahlen ausgeht weniger bestürzend?
Nur eine Wahrheit?
Es wäre indes unerträglich, der makaberen Rechnung andere Rechnungen
gegenüberzustellen. Der Kern der Kontroverse besteht in anderem:
Courtois teilt mit unbelehrten Verteidigern des Stalinismus eine
zentrale These: das Stalinsche Modell, sein Totalitarismus und sein
Terror seien keine Entartung sondern die direkte Konsequenz nicht
nur der russischen Oktoberrevolution sondern aller kommunistischen
Bestrebungen seit Karl Marx. Bewußt wird dabei die Vielzahl unterschiedlicher
und gegensätzlicher Strömungen des Marxismus und Kommunismus ausgeklammert.
Ignoriert werden auch die innerkommunistischen Versuche, aus dem
stalinistischen Korsett auszubrechen. Wesentliche Kapitel des Kommunismus
wurden aber von den VertreterInnen einer antistalinistischen Traditionslinie
geschrieben, die ihre Dissidenz mit Ausgrenzung und oftmals mit
dem Leben bezahlten.
Wer den Stalinismus für die einzige, die totale Wahrheit des Kommunismus
hält, der wird mit derselben Konsequenz auch in der Inquisition
oder der Ausrottung der indigenen Kulturen Lateinamerikas die alleinigen
Wahrheiten des Christentums sehen müssen, und die vielfache Selbstkritik
sowie das jahrhundertelange Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit
innerhalb der Kirchen negieren.
Konkret ist: Es gab den Kommunismus des Zwanges mit seinen menschlichen
Katastrophen, aber auch jenen der Suche nach Freiheit, es gab sowohl
Stalin wie Rosa Luxemburg, Gramcsi, Dubcek, Fischer oder Berlinguer.
Und es gab auch in Österreich viele Tausende mutige und aufrechte
Menschen, die nicht um Stalins Willen, sondern ihrer eigenen Überzeugung
folgend Menschenwürde und Demokratie gegen den Hitlerfaschismus
verteidigten. Doch nicht um Historisches geht es allein, sondern,
und hier steht die KPÖ vor demselben Problem wie ihre großen Schwestern
in Frankreich, Italien oder Spanien: um die Entwicklung eines neuen,
demokratischen Kommunismus als fundamentale Herausforderung des
neoliberal entgrenzten Kapitalismus.
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Artikel von Mag.
Walter Baier, Vorsitzender der KPÖ, im "Standard",
Montag, 15. Dezember 1997 |
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