KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Von der Grenzziehung zur Kooperation

Walter Baier, KPÖ-Bundesvorstand, transform! europe mit Papst Benedikt XVI. (Bild: Servicio Fotografico L'Osservatore Romano)

Von Walter Baier (30.10.2011)

Friedenstreffen in Assisis und in Rom

Am 27. Oktober lud Papst Benedikt XVI. zu einem interreligiösen und interkonfessi­onellen Treffen für den Frieden in die mittelitalienische Stadt Assisi ein. Erstmals richtet sich diese Einladung nicht nur an die Vertreter der Weltreligionen sondern auch an fünf Persönlichkeiten aus dem Lager des „Atheismus“, unter ihnen Walter Baier, der Ex-Vorsitzende der KPÖ und Koordinator des think tanks der Europäischen Linken, „transform! europe“. In einer öffentlichen Diskussion mit der bulgarisch-französischen Philosophin, Julia Kristeva (Paris VII), Remo Bodei (University of California), Guillermo Hurtado, (Universidad Nacional Autónoma de México) und Padre Laurent Mazas, die im Rektorat der Universität Romm III stattfand, legte Baier die Motive des Dialogs aus marxistischer Sicht dar:

Von der Grenzziehung zur Kooperation

Meine erste persönliche Erfahrung des Dialogs mit ChristInnen geht auf den Beginn der 80er-Jahre im vorigen Jahrhundert zurück, wo wir uns aneinander abmühten, die bestmögliche gemeinsame Plattform für den gemeinsamen Kampf gegen einen drohenden Atomkrieg zu finden. Am Beginn des neuen Jahrhunderts war es das Welt Sozial Forum in Porto Alegre, das ChristInnen und MarxistInnen im Kampf um die andere, mögliche Welt vereinte.

Und last, gewiss not least ist es, das nun seit über einem Jahrzehnt sich entwickelnde Dialogexperiment zwischen der Fokolarbewegung und den österreichischen KommunistInnen, deren Partei ich bis 2006 vorgestanden bin, das uns immer wieder zusammenführt, zuletzt auch 2003 und 2004 mit der Gründerin und Leiterin der Bewegung Chiara Lubich.

transform! europe, dessen Koordinator ich seit 2007 bin, besteht aus 22 Forschungs- und Bildungseinrichtun­gen aus 16 europäischen Ländern, die der „Linken der Linken“ nahestehen. Das Netzwerk ist von der Partei der Europäischen Linken als die mit ihr korrespondierende politische Stiftung anerkannt, wird deshalb auch vom Europäischen Parlament finanziert und definiert sich programmatisch als ein Netzwerk für alternatives Denken und politischen Dialog.

Die Notwendigkeit des Dialogs auch über – selbst weit gezogene – Grenzen der eigenen Weltanschauungen hinaus ergibt sich aus der Erkenntnis, dass man sich die Zukunft der Gesellschaft nicht einfach ausdenken kann, sondern dass sie aus der Praxis vieler Menschen entsteht, und in der Auseinandersetzung mit je gegenwärtigen Problemen. Schon Marx und Engels hatten in einer häufig zitierten Stelle aus zur Selbstverständigung verfassten Gemeinschaftsar­beit, „Die Deutsche Ideologie“ angemerkt, dass der Kommunismus nicht als ein „Ideal“ verstanden werden solle, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten habe, sondern „die reale Bewegung, die die gegenwärtigen Zustände aufhebt“.1)

Daraus ist abzuleiten, dass KommunistInnen die Zukunft sich nicht als ihr alleiniges Werk vorstellen können. Dass sie sich in der Vergangenheit nicht zu diesem freundlichen Realismus entschließen konnten, zum Schaden vieler und auch zum eigenen Schaden, soll hier nur vermerkt aber nicht näher untersucht werden.

Gewollt oder ungewollt führt jeder Dialog zur Frage von möglichen Übereinstimmungen beziehungsweise notwendigen Abgrenzungen. Der bekannte, im christlich-marxistischen Dialog engagierte österreichische Philosoph Walter Hollitscher, der von den Nazis aus seiner Heimat vertrieben wurde, und nach 1945 vom wieder errichteten Österreich zur beruflichen Emigration in die DDR gezwungen war, hielt eine penible Grenzziehung für erforderlich zwischen dem Bereich der möglichen Kooperation und dem der unvereinbaren Gegensätzlichkeit. In diesem Sinne warnte er vor einer möglichen „Vermischung unserer Motive und Begründungen“. Jederzeit und gegenüber jedem sei man als Marxist dazu bereit, unterstrich er, die „wissenschaftliche Unhaltbarkeit des Gottglaubens, insbesondere daran, dass der Mensch Gottes ebenbildliches Geschöpf sei“, darzulegen2).

Dies aber ist seltsam, begründet sich doch Marx’ „kategorischer Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, ausgerechnet in „der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ sei.“3)

Stehen wir hier nicht vor dem klassischen Beispiel, einer zwar sehr gegensätzlich formulierten gleichzeitig aber konvergierenden Humanismus: Mensch als „Gottes Ebenbild“ im einen Fall, und Mensch als “höchstes Wesen des Menschen“ im anderen. Letzteres taucht bei Marx, was in unserer Debatte paradox erscheinen kann, in einem literarischen Kontext auf, der gemeinhin als der Gipfelpunkt der Marx’schen Religionskritik gilt, steht doch einige Zeilen weiter die so häufig – falsch – zitierte Stelle vom „Opium des Volks“4) ?

Doch geht es dabei nicht um das Wort, ist die Welt heute doch noch gefährdeter und komplizierter als in den späten 60er-Jahren, als MarxistInnen und ChristInnen sich auf einen Dialog verständigten, der sich auf die gemeinsame Anstrengung der Bewahrung des Friedens zu konzentrierte, und in diesem Sinne jede weitere und tiefere Debatte ausklammerte.

Die Herausforderung heutiger Philosophie (und wohl auch Theologie) im Hinblick auf den tätigen Humanismus sehe ich angesichts der neuen Gefahren nicht so sehr in der Abgrenzung als in der Herstellung einer strategischen Kooperation, was neben guten Willen auch die Verständigung in einer gemeinsamen Sprache der Ethik voraussetzt.

Eine enge Verbindung des Ethischen und des Politischen anzunehmen, hatte über lange Zeit keinen besonders guten Ruf unter den Theoretikern der Arbeiterbewegung, hatte nicht Marx’ zutreffend beobachtet, dass Ideen sich jedes Mal blamierten, wenn sie unabhängig von materiellen Interessen auftraten. Doch schließen sich diese Aspekte nicht unbedingt aus. Materielle Interessen müssen sollen sie sich als gesellschaftliche Norm durchsetzen, als für alle verbindliche, positive Werte formuliert werden. Das Gegenteil anzunehmen, nämlich Interessen unabhängig von ethischen Begründungen durchzusetzen, läuft auf das Recht des Stärkeren, das heißt auf einen sozialen und politischen Darwinismus hinaus.

Die Beziehung von Sozialismus und Ethik bildeten denn auch einen Gegenstand der Erörterungen in der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunder­ts5). Auf Seiten der Sozialdemokratie kommen mir als Linkem und Österreicher vor allem der Austromarxismus und Friedrich Adler in den Sinn.

Für ihn, den wohl wichtigsten Theoretiker der autro-marxistischen Linken genügte nicht die als erkannt unterstellte „wissenschaftlich erforschbare Kausalität des Sozialen“, um das „Ziel der klassenlosen Gesellschaft“ zu begründen, sondern dieses sei war vor allem Konsequenz des „moralische Wollens“. Die Lösung des Konflikts zwischen Moral und Politik bestehe nicht darin, „eine andere Moral für den Staat, sondern einen anderen Staat für die Moral zu begründen.“6)

Auf der anderen Seite der Linken war es Antonio Gramsci, der das „ethisch-politische Moment“7), zum Zentralpunkt einer erneuerten Politikkonzeption der Kommunistischen Internationale machen wollte. In den Gefägnisheften notierte er über „die Annäherung der beiden Ausdrücke Ethik und Politik“, dass „die ethische Geschichte die zur ‚Zivilgesellschaf­t’, zur Hegemonie in Wechselbeziehung stehende Seite der Geschichte darstelle, ohne die eine intellektuelle und moralische Reform der Gesellschaft nicht denkbar sei, eine ‚Katharsis’ in dessen Verlauf der Übergang vom bloß ökonomischen (oder leidenschaftlich-egoistischen) Moment zum ethisch-politischen Moment, die Hinaufarbeitung der Struktur zu Superstruktur im Bewusstsein der Menschen.“8), stattfände.

Wäre, so ist an dieser Stelle zu fragen, mit der erkannten Notwendigkeit der intellektuellen und moralischen Reform, der Katharsis, nicht auch ein neues, breites Feld des Dialoges und der Kooperation zwischen MarxistInnen und ChristInnen geöffnet?

Ich habe mit viel Interesse am „Parvis des Gentils“ in Paris teilgenommen und möchte mich für die Einladung herzlich bedanken. Am Ende dachte ich mir, dass in der heutigen Zeit der Krise und der politischen Gefahren mehr „prophetische“ Leidenschaft, ich meine, eine deutlich erkennbare Option zugunsten der sozial Benachteiligten, der Prekarisierten und der vor Not und Verfolgung auf der Flucht befindlichen Männer und Frauen dem Dialog helfen würde.

Daher möchte ich heute vor allem den zentralen Stellenwert der „sozialen Gerechtigkeit“ im Wertesystem der Linken in Erinnerung zu bringen, das heißt das Recht der Menschen auf eine die Lebenshaltung ermöglichende, menschenwürdige Erwerbsarbeit, auf ein Einkommen als Menschenrecht, auf ein allen gleichermaßen zugängliches, auf Wohnung, auf einen Schutz vor Armut im Alter und auf den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur, also den, von den Arbeiterbewegungen durchgesetzten und heute wieder in Frage gestellten zivilisatorischen Standard.

Betrachtet man den Sozialismus unter diesem Gesichtspunkt so beinhaltet er vor allem zwei allgemeine Ideen, die der Gemeinsamkeit und die des Teilens, genauer der Neuverteilung der Lebenschancen durch Umverteilung des Eigentums, der Arbeit und der Einkommen. Dabei ist davon auszugehen, dass Teilen nur als ein internationales und globales Konzept verstanden werden kann, also auch die Umverteilung von Vermögen und Einkommen von den bislang privilegierten Regionen in die benachteiligten und ausgebeuteten Regionen einschließt.

Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, dass Feminismus ausschließlich von Frauen handelt.

In einem seiner frühesten Text hatte Marx folgenden anthropologischen Zusammenhang erkannt: „In dem Verhältnis zum Weib … ist die unendliche Degradation ausgesprochen, in welcher der Mensch für sich selbst existiert … In diesem natürlichen Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigentliche natürliche Bestimmung ist. In diesem Verhältnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen geworden. Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe der Menschheit beurteilen.“9)

Der Befund über den „Bildungsstand der Menschheit“ ist gemessen an den angehäuften Potentialen der Vernichtung alarmierend. Die Indignation so großer Teile der Jugend, die im arabischen Raum ihren Ausgang nahm, Israel und nun auch die USA, Chile und Europa erfasst hat, also weltweit geworden ist, zeigt, dass nicht nur gegenwärtige Interessen sondern auch die Zukunft auf dem Spiel stehen. Sie verdient Beachtung und Sympathie.

Lassen Sie mich standesgemäß mit Marx schließen: Es ist das Eine, die Welt philosophisch zu interpretieren; und es ein anderes, leidenschaftlich um ihre Veränderung zu kämpfen. Für beides brauchen wir einander: Für den Dialog der Tat, die Solidarität der Einzelnen und der Gruppen guten Willens. Doch die Krise der kapitalistischen Ökonomie, die Kriege, aktuellen wie die drohenden, die revolutionären Veränderungen durch technologische und sozialstrukturelle Umwälzungen, das Erreichen der ökologischen Grenzen unserer Produktionsweisen, die weltweite ungleiche Verteilung der Lebenschancen und die davon erzeigten Erschütterung der Weltordnung – alles das erfordert eine permanente Neuinterpretation der Welt und das Erkunden neuer Wege der Veränderung.

Mehr denn je sind wir dabei aufeinander verwiesen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und die Gastfreundschaft.

1) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1845 – 1846): „Die deutsche Ideologie“, in: Marx/Engels Werke, Band. 3, Berlin 1969, S. 35.

2) Hollitscher, Walter (1977): „Für und wider die Menschlichkeit. Essay“, Wien, S.88

3) Marx, Karl: (1843/44): „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx/Engels Werke, Band 1, Berlin 1969, S. 385.

4) Ebd.

5) Siehe: W.F.Haug (1997): „Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3“, Berlin; Hamburg. S. 910 – 914

6) Zitiert nach: Kulemann, Peter (1982): „Am Beispiel des Austromarxismus“ Hamburg, S.381

7) Vergl. Herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug, (1997): „Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3“, Berlin; Hamburg S. 910 – 914

8) Gramsci, Antoni: „Gefängnishefte 6“ , (NOTIZEN ZUR PHILOSOPHIE IV), S. 1259

9) Marx, Karl: „Texte zu Methode und Praxis II. Pariser Manuskripte“, S. 75