KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Gender und Mobilitätserhebungen

Von Bente Knoll (10.7.2011)

Die Genderperspektive in der Verkehrsplanung und Mobilitätsforschung einzunehmen bedeutet, bestehende Geschlechterver­hältnisse und Hierarchien zu thematisieren sowie aktiv für mehr Geschlechterge­rechtigkeit zu arbeiten.

Ob auf dem täglichen Weg zur Arbeit, ob beim Einkauf, beim Begleiten von Kindern oder in der Freizeit – es gibt kaum jemanden, der nicht in vielfältiger Weise Wege zurücklegt. Es sind immer Frauen und Männer, Mädchen und Burschen, die diese Wege zurücklegen – also Menschen mit einem biologischen und sozialen Geschlecht. Mobilität ist immer eingebettet in die bestehenden Geschlechterver­hältnisse unserer Gesellschaft. Die geschlechtsspe­zifische Arbeitsteilung mit den Zuweisungen von Erwerbs-, Versorgungs-, Haus- und Reproduktionsarbeit nach den Geschlechtern hat immer Einfluss auf die Mobilität von Menschen. So werden in unserer Gesellschaft das Einkaufen, das Begleiten von Kindern und älteren Menschen oder die Wege für andere (kranke, ältere) Menschen immer noch mehrheitlich von Frauen erledigt und auch von Frauen erwartet.

Daten und Gender

Heute bauen Verkehrsplanung und insbesondere die Entscheidungspro­zesse in der Verkehrspolitik und Verkehrsplanung auf einer modellhaften Abbildung des Verkehrsgeschehens auf. Hierfür werden umfassende empirische Daten über das Verkehrs- und Mobilitätsverhalten von Menschen benötigt. Es werden Erhebungen zum gebietsübergre­ifenden Verkehrsverhalten durchgeführt, um Aussagen und Prognosen zum Personenverkeh­rsverhalten und zur Entwicklung des Verkehrsgeschehens insgesamt zu erhalten.

Derzeit gilt die Haushaltsbefragung als das zuverlässigste Erhebungsverfahren zur Bestandsanalyse im Rahmen der Verkehrsplanung, wobei derzeit die Befragungen meist in schriftlicher und postalischer Form durchgeführt werden. Es werden die außerhäuslichen Aktivitäten und Wege aller im Haushalt lebenden Personen von ausgewählten Stichprobenhau­shalten in einem bestimmten Zeitraum (Stichtag oder über einen längeren Zeitraum) mittels eines standardisierten Fragebogens erfasst. Im Regelfall werden Daten und Informationen zum werktäglichen und sonntäglichen Verkehrsverhalten von Personen erhoben. Die Erhebungseinheit ist der Haushalt, d. h. die Befragungsunter­lagen werden an die Haushaltsadresse für alle Haushaltsmitglieder verschickt.

Die Ergebnisse von Verkehrs- und Mobilitätserhe­bungen zeigen vor allem hinsichtlich der Verkehrsmittelwahl (Modal Split) und auch der Wegezwecke deutliche geschlechtsspe­zifische Unterschiede: Männer haben einen klaren Hauptwegezweck und Frauen einen »Wegezweck-Mix«. Der klare Hauptwegezweck von Männern ist mit 40 Prozent der Wegezweck »Arbeitsplatz / dienstlich / geschäftlich«. Der zweite Wegezweck ist die Freizeit mit 21 Prozent. Nur 5 Prozent der Wege von Männern haben den Zweck »Bringen / Holen von Personen« – bei Frauen sind es 11 Prozent. Es zeigt sich bei der Mobilitätserhebung in Niederösterreich (2005) eine interessante Teilung der Wegezwecke von Frauen: Die Wegezwecke »Arbeitsplatz / dienstlich / geschäftlich« (23 %), »Einkauf« (22 %) und »Freizeit« (21 %) werden nahezu gleich häufig angegeben.

Jedoch ist bei diesen Zahlen und Fakten auch die Art der Datenerhebung mit zu berücksichtigen: So sind in die gängigen Fragebögen von Verkehrs- und Mobilitätserhe­bungen die Genderkonstruk­tionen eingeschrieben. Dies soll nun am Beispiel der »Wegezwecke« konkret erläutert werden.

Die Wege, die für reproduktive Tätigkeiten zurückgelegt werden, werden nicht in ihrer vollständigen Dimension abgefragt und erhoben. Die Einteilung der Wegezwecke in »Erwerbsarbeit«, »Ausbildung«, »Einkauf«, »Bringen/Holen von Personen«, »Private Erledigung« wie »Behörden«, »Freizeit« und die in weiterer Folge als »Berufsverkehr«, »Einkaufs- und Freizeitverkehr« etc. in den planerischen Diskussionen verwendeten Begriffe entsprechen der traditionellen Zuweisung Mann=Erwerbsarbeit und Frau=Hausarbeit.

Um diese Tatsachen zu begreifen und sichtbar zu machen, dass nicht nur Frauenalltage durch gängige Erhebungsmethoden nicht adäquat abgebildet werden, genügt es sich vorzustellen, was es für einen 32-jährigen Vater in Teilkarenz (= Erziehungsurlaub) bedeutet, auf dem Fragebogen beim Wegezweck genau ein Kreuz zu machen für einen Weg von zu Hause über den Spielplatz zur Apotheke, weiter zum Drogeriemarkt, dann zur Bäckerin und weiter zum Lebensmittelges­chäft – dies alles in Begleitung seines 2-jährigen Sohnes und seiner 6 Monate alten Tochter.

Das Kreuz mit den Wegeketten

Wo soll das Kreuz beim Fragebogen denn hinkommen?

  • Arbeitsplatz? Als Vater in Teilkarenz verbringt er den Arbeitstag zuhause – also ist die Wohnung zurzeit auch sein Arbeitsplatz? Er bezieht ja schließlich Kinderbetreuun­gsgeld dafür.
  • Bringen und Holen von Personen? Nein, denn der Sohn wurde nicht in eine Betreuungsein­richtung gebracht. Oder vielleicht doch – denn der Vater hat seinen Sohn zum Spielplatz gebracht und dort betreut?
  • Einkauf? Ja zum Teil, aber was ist mit dem Spielplatz-Aufenthalt?
  • Private Erledigung? Nein, auf keinen Fall! Der Vater hat weder den Spielplatz, noch die Apotheke (Medizin für den Sohn), noch die Bäckerin (ein Brötchen für das hungrige Kind) für sich privat genutzt bzw. dort private Erledigungen gemacht. Vielleicht fällt aber das Lebensmittelges­chäft unter private Erledigung, denn dort hat der Vater auch eine Tageszeitung für sein Privatvergnügen gekauft – obwohl, auch in Teilkarenz muss mann [sic!] auf dem Laufenden bleiben …
  • Freizeitaktivität? Ja, das ist die vorletzte anzukreuzende Möglichkeit – die letzte anzukreuzende Möglichkeit (»Zurück nach Hause«) wird für den nächsten Weg verwendet. Wobei der Vater das zufällige Treffen mit xy vom Spielplatz gar nicht angeben wird, denn es war ja kein Ziel, xy zu treffen. Und dass der Nachhauseweg durch das Treffen und Plaudern eine halbe Stunde länger als gewöhnlich gedauert hat – darüber sollen sich die Verkehrsplaner Gedanken machen.

Die komplexen und differenzierten Wegeketten mit verschiedenen Wegezwecken von Menschen mit Betreuungspflichten – in unserer Gesellschaft sind dies nach wie vor mehrheitlich Frauen – werden nicht sichtbar. Begleitwege werden nicht in ihren realen Dimensionen abgefragt. Ebenso werden die Nebenbei-Wege, wie auf dem Weg zur Arbeit noch schnell in die Reinigung oder einen Imbiss kaufen, nicht explizit angesprochen und abgefragt – und somit stehen diese Informationen für die Auswertungen nicht zur Verfügung.

Mobile Genderperspektive

Die Genderperspektive in der Verkehrsplanung und Mobilitätsforschung einzunehmen bedeutet, bestehende Geschlechterver­hältnisse und Hierarchien zu thematisieren sowie aktiv an einer Veränderung zu mehr Geschlechterge­rechtigkeit zu arbeiten. Entwicklung und Umsetzung konkreter Maßnahmen erfordert einen sinnvollen Umgang mit dem Dilemma: einerseits die im offiziellen Diskurs der Planungswissen­schaften, in den gängigen Lehrmeinungen, Theorien und Paradigmen der Profession weitgehend unsichtbaren Geschlechterver­hältnisse aufzudecken und Unterschiede in den Ausgangspositionen von Frauen und Männern zu berücksichtigen, und andererseits nicht zu einer Festschreibung traditioneller Geschlechterrollen, sondern vielmehr zur Entwicklung neuer Geschlechterver­hältnisse beizutragen.

Dipl.-Ing.in Dr.in Bente Knoll ist Landschafts- und Verkehrsplanerin, Genderexpertin, Universitätsdo­zentin. Ihre Dissertation ist mit dem Titel »Gender Planning. Grundlagen für Verkehrs- und Mobilitätserhe­bungen« im vdm Verlag Dr. Müller Saarbrücken 2008 erschienen. Jüngste Buchveröffentlichun­g: Knoll, Bente; Ratzer, Brigitte (2010): Gender Studies in den Ingenieurwissen­schaften, facultas Verlag, Wien.

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