POSITIONEN & THEMEN
Von Winfried Wolf (10.7.2011)
Zur materiellen Basis der Autogesellschaft.
Auf die zentrale Frage, warum sich die Autogesellschaft durchsetzte und warum sie sich selbst in den Krisenjahren 2008/2009 so rasant in den Schwellenländern durchsetzt, gibt es drei Standardantworten.
Die erste lautet: Auto-Mobilität ist elementar für die moderne Gesellschaft und ihren Lebensstandard. In den Worten von Matthias Wissmann, dem Präsidenten des Verbandes der (deutschen) Automobilindustrie (VDA): »Individuelle Mobilität von Personen und Gütern ist (…) die Voraussetzung für unseren Lebensstandard. Wir müssen daher alles daran setzen, dass wir in allen Erdteilen diese individuelle Mobilität ökologisch verantwortbar machen.«
Tatsächlich kannte auch die moderne Gesellschaft keine individuelle Mobilität als Voraussetzung für Wohlstand weder in der Französischen Revolution noch in der Bill of Rights der Vereinigten Staaten wurde Vergleichbares postuliert. In den modernen Millionenstädten Chinas funktionierte Mobilität noch vor rund einem Jahrzehnt ohne Autos zu Fuß, per Rad, mit Straßenbahnen.
Die zweite Antwort lautet: Das Auto bringt erhebliche praktische Vorteile. Es ist schnell, immer verfügbar und unterstützt insbesondere die Schwachen in der Gesellschaft. In den Worten prominenter Grüner: »Für Frauen bedeutet das Auto Sicherheit auf nächtlichen Straßen (…) Für alte Menschen und für Behinderte ist das Auto ein Synonym für unabhängige Bewegungsfreiheit.«
In Wirklichkeit gilt: Je vollkommener die Autogesellschaft, desto unpraktischer und tödlicher wird sie. In der Stadt mit der höchsten Pkw- und Highway-Dichte, in Los Angeles, liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit im Pkw auf der Höhe eines unsportlichen Radfahrers. Ivan Illich begründete, dass bei der Formel »km/h«, zurückgelegte Entfernung dividiert durch Zeit, nicht nur die reine Fahrtzeit im Pkw, sondern auch die Zeit berücksichtigt werden müsse, die für das Auto um es anzuschaffen und um es zu unterhalten aufzuwenden ist. Damit sinkt die reale Transportgeschwindigkeit auf die eines passabel trainierten Fußgängers vom Typ »Nordic Walking«.
Im übrigen produzierte keine menschliche Erfindung mit Ausnahme des Schießgewehrs so viele Tote, Verletzte und Invalide wie das Auto. 50 Millionen Menschen wurden seit der Erfindung des Autos im Straßenverkehr getötet. Pro Jahr werden weltweit eine Million Menschen Opfer des Autoverkehrs. In der EU mit 27 Mitgliedstaaten gibt es jährlich 40.000 Tote oder in zwölf Jahren eine halbe Million Straßenverkehrsopfer. Meine Erfahrung lautet: Jeder kennt jemanden aus dem engeren Bekanntenkreis, der im Straßenverkehr schwer verletzt wurde oder er kannte jemanden, der dort ums Leben kam.
Das dritte Argument lautet: Das Auto ist zentraler Bestandteil einer Massenpsychologie, die insbesondere im modernen Kapitalismus wirksam ist.
Ich halte dieses Argument für das zweitwichtigste zur Erklärung des Erfolgs der Autogesellschaft. Wenn die Mehrheit der Menschen nicht die Möglichkeit hat, über die großen Fragen der Gesellschaft über Krieg/Frieden, Armut/Reichtum, Hunger/Überfluss, Klimazerstörung/Nachhaltigkeit zu entscheiden, dann ermöglicht das Auto doch die Millionen kleinen Fluchten mit viel PS-Potenz. Es war insofern logisch, dass auch die Führungen in der DDR, in der Sowjetunion und in den übrigen mittel- und osteuropäischen RGW-Staaten die Pkw-Motorisierung förderten. Neue Trabantenstädte in Ostberlin (Marzahn und Hellersdorf) wurden von vornherein so konzipiert, dass auf 1000 Einwohner 350 bis 400 Pkw kommen konnten (am Ende der DDR, 1989, gab es dort immerhin bereits 250 Pkw auf 1000 Einwohner; heute sind es in der EU rund 500 Pkw je 1000 Einwohner). Auch in diesen Gesellschaften waren die Massen von den großen gesellschaftlichen Entscheidungen ausgeschlossen und diente die Pkw-Motorisierung als Ventil.
Im heutigen China treffen gleich zwei Gesellschaftsformationen aufeinander, die beide in den Massen die Sehnsucht nach dem »eigenen Auto« befeuern: die »alte« staatskommunistische Gesellschaft, von der noch die starre, extrem hierarchische und undemokratische KP-Führung existiert, und die »moderne« kapitalistische Wirtschaftsstruktur, die von extremer Ausbeutung und Entfremdung geprägt ist.
Ich bin also weit entfernt davon, den massenpsychologischen Aspekt der Autogesellschaft zu leugnen. Er existiert und er ist mächtig.
Öltank regiert die Welt?
Doch was ist dann das wichtigste Argument zur Erklärung der Wirkungsmächtigkeit der Autogesellschaft? Dazu ist es sinnvoll, die pseudoreligiösen Erscheinungsformen der Autogesellschaft auf ihre materielle, ökonomische Basis zurückzuführen etwa wie folgt:
Sind wir gekommen.
Siebenhundert (und viele sind noch unterwegs)
Und haben Dich gesehen
Plötzlich über Nacht
Öltank.
Eilet herbei, alle
Die ihr absägt den Ast, auf dem ihr sitzet
Werktätige!
Gott ist wiedergekommen
In Gestalt eines Öltanks.
Was ist für Dich ein Gras?
Du sitzest darauf.
Wo ehedem ein Gras war
Da sitzest jetzt Du, Öltank.
Und vor Dir ist ein Gefühl
Bertolt Brechts Zeilen aus den 1920er Jahren verbinden die Anbetung eines Öltanks mit dem physischen Gewicht eines Öltanks. Dieser plättet das Gras. Rücksicht auf Mensch, Umwelt und Natur sind ein Nichts.
Das oft vorgetragene Argument »Geld regiert die Welt« muss auch stofflich konkretisiert werden: Welches Geld, welches wo angelegte Kapital ist es, das die Welt »regiert«. Im US-amerikanischen Wirtschaftsblatt »Fortune« wurde jüngst die Liste der 500 größten Unternehmen der Welt mit den Worten eingeleitet: »Eine einzige Schlussfolgerung drängt sich auf: Wie niemals zuvor sind es die natürlichen Ressourcen, die die globale Ökonomie antreiben. Fünf Unternehmen auf der Liste der zehn mächtigsten Konzerne sind Ölgesellschaften, eines mehr als im Vorjahr. Weitere vier sind Autokonzerne, deren Kundschaft viel Kraftstoff benötigt.« Das US-Wirtschaftsblatt kommentierte damit eine Entwicklung, die sich seit hundert Jahren verfestigt. Die Konzerne, die bei Ölförderung, Ölverarbeitung, Autoherstellung, Flugzeugbau/Airlines und bei der Erzeugung und Verteilung der fossilen Energien entscheidend sind, konnten Jahr für Jahr ihre Position verbessern. Ausgerechnet im letzten Jahrzehnt, als die Debatte über die Klimazerstörung einen Höhepunkt erlebte, konnte diese Konzern-Gruppe ihre Position noch ausbauen. 1999 entfielen gut 23 Prozent des Umsatzes der 500 größten Konzerne der Welt auf diese Unternehmen. Elf Jahre später ist ihr Anteil bereits auf 30 Prozent (29,8 %) angestiegen (siehe Tabelle A).
BRANCHEN | 1999 | 2005 | 2008 | 2009 | ||||
Mrd $ | Mrd $ | Mrd $ | Mrd $ | |||||
Gruppe I | ||||||||
Öl- und Bergbau | 1.000 | 7,9% | 2.880 | 15,2% | 4.989 | 19,8% | 3.477 | 15,1% |
Auto-Industrie | 1.263 | 9,9% | 1.812 | 9,6% | 1.992 | 7,9% | 1.849 | 8,0% |
Flugzeugbau (zivil) | 60 | 0,5% | 110 | 0,6% | 95 | 0,4% | 236 | 1,0% |
Airlines | 127 | 1,0% | 137 | 0,7% | 157 | 0,6% | 108 | 0,5% |
Gruppe II | 1.450 | 11,4% | 2.059 | 10,9% | 2.244 | 8,9% | 2.194 | 9,5% |
Zwischen-Summe | 2.450 | 19,3% | 4.939 | 26,1% | 7.233 | 28,7% | 5.671 | 24,6% |
Gruppe III | ||||||||
Energieproduktion u. -versorger | 515 | 4,1% | 929 | 4,9% | 1.481 | 5,9% | 1.188 | 5,2% |
Block Öl-Auto-fossile Energie | 2.965 | 23,4% | 5.868 | 31,0% | 8.714 | 34,6% | 6.859 | 29,8% |
Gesamte Global 500 | 12.696 | 100% | 18.929 | 100% | 25.178 | 100% | 23.085 | 100% |
Der Ölblock und die Krise
In der weltweiten Krise 2008/2009 verlor der Block Öl-Auto-Flugzeug-fossile Energiewirtschaft etwas an Gewicht. Sein Anteil sank von knapp 35 im Jahr 2008 auf knapp 30 Prozent 2009. Allerdings handelte es sich 2009 um eine besondere Situation. Die Umsätze der Ölkonzerne waren wegen Krise und Ölpreisverfall um bis zu 30 Prozent eingebrochen. In der Autoindustrie gab es ebenfalls deutliche Umsatzeinbrüche.
Einen präziseren Einblick in die Struktur dieser Gruppe im Krisenjahr 2009 liefert Tabelle B. Hier sind die Profite und die Beschäftigtenstruktur mit einbezogen. Auch wurden hier Frachtkonzerne berücksichtigt und die Rüstungsindustrie ergänzend aufgeführt. Auch diese beiden Gruppen sind weitgehend von Öl von Schweröl, Schiffsdiesel, Kerosin, Flugbenzin und Raketentreibstoff abhängig. Danach entfielen selbst im Krisenjahr 2009 22,5 Prozent aller Global-500-Profite allein auf die Ölkonzerne. Die gesamte Öl-affine Konzern-Gruppe konzentrierte 31,4 Prozent der addierten Global-500-Profite auf sich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in diesem Jahr bei den Autokonzernen und den Airlines Netto-Verluste gab.
2010 verbuchten die Ölkonzerne wieder Rekordgewinne. 2011 sind auch die meisten Autokonzerne wieder hochprofitabel. Schließlich zielte ein großer Teil der Konjunkturprogramme, die die Regierungen in der Krise aufgelegt hatten, auf eine Stärkung der Autoindustrie bzw. auf Straßenbau. Groteskerweise wurden ausgerechnet in Zeiten der heftigen Debatte über die Klimaerwärmung siehe die gescheiterte Klima-Konferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 die Dinosaurier-Strukturen der Autoindustrie und des Straßenverkehrs nochmals gestärkt. Man kann getrost davon ausgehen, dass der Anteil der skizzierten Öl-affinen Gruppe unter den »Global 500« 2010 und 2011 nochmals anwachsen wird auf rund 35 Prozent.
500 und die Geschicke der Welt
»Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents.« Diese genau 101 Jahre alte Erkenntnis des AEG-Gründers Walter Rathenau muss dreifach modifiziert werden: Erstens geht es bei der gegebenen Kapitalkonzentration heute um die »Geschicke der Welt« und nicht allein um die des europäischen Kontinents. Zweitens sind es heute 500 Top-Manager (495 Männer und fünf Frauen), die die Geschicke der Weltwirtschaft maßgeblich bestimmen. Drittens sind es vor allem die Großaktionäre und die Top-Manager der 138 Öl-affinen Konzerne im allgemeinen und der 53 Ölkonzerne im besonderen, die das zerstörerische Mobilitätsmodell der modernen Gesellschaft vorantreiben.
Winfried Wolf ist Chefredakteur der linken Wirtschaftszeitschrift Lunapark, Autor mehrerer Bücher zu verkehrspolitischen Themen, darunter: Verkehr Umwelt Klima. Die Globalisierung des Tempowahns. Promedia, Wien 2007.
Volksstimme, Juli/August 2011 Schwerpunkt, Freie Fahrt für freie BürgerInnen. Aber anders.