POSITIONEN & THEMEN
Von Jürgen Meier (4.11.2007)
Die Kritik ist der Kopf der Leidenschaft, lautete die, von Marx entlehnte Devise des Denkers Leo Kofler, der sich in vielen Büchern, Artikeln und Vorträgen leidenschaftlich bemühte die Kernaussagen des Marxschen Menschenbildes als Strandgut vor stalinistischen und reformistischen Partei- und Staatsfunktionären zu retten. Christoph Jünke hat nicht nur dieses Strandgut und die Entwicklung seines Sammlers Kofler in eindrucksvoller Weise zusammengetragen, sondern gleichzeitig ein sehr umfangreiches und lehrreiches Bild der europäischen Entwicklungsgeschichte seit dem 1. Weltkrieg gezeichnet, in dessen Wirren und Vertreibungen der jüdische Knabe Kofler im roten Wien seine ersten Erkenntnisse über die kapitalistischen Hintergründe vermittelt bekam, die zum Ausbruch dieses Krieges geführt hatten. Jünke vermittelt dem Leser zusätzlich einen ausgezeichneten Einblick in die verschiedensten Theorien bedeutender Denker, die das zwanzigste Jahrhundert mit geprägt haben. Ob Marcuse, Adler, Lefebvre oder Adorno, sie werden in ihren Ansichten vom menschlichen Sein und Werden in diesem Buch bestens skizziert.
Kofler floh vor den Faschisten aus Wien in die Schweiz. Nach dem Krieg
siedelte er in jenen Teil Deutschlands über, in dem er, wie neben ihm auch
Brecht, Bloch und Hans Mayer, das Prinzip Hoffnung auf eine menschliche, von
Ausbeutung und Unterdrückung befreite Gesellschaft glaubten entstehen zu sehen.
Als Professor in Halle lernte Kofler jedoch bereits nach kurzer Zeit die
Hindernisse kennen, die jene taktische und inhaltlich entleerte Handhabung des
Marxismus, die in der DDR ganz im Geiste Stalins praktiziert wurde, ihm und dem
Prinzip Hoffnung in den Weg legte. Kofler forderte die reale Rückkehr zu Marx,
was einen radikalen Bruch mit den bürokratischen Traditionen des Stalinismus
bedeuten würde, wie er nicht müde wurde in Vorträgen, Artikeln und Büchern
zu betonen. Koflers kritischen Kopf der Leidenschaft zügelte die
DDR-Bürokratie schließlich mit dem Berufsverbot und vertrieb Kofler damit in
den Westen Deutschlands, wo er seine Vorstellungen von der Renaissance des
Marxismus u.a. in dem Buch Perspektiven des revolutionären Humanismus
formulierte. Kofler wollte die Rolle des Bewusstseins im gesellschaftlichen Sein
wiederherstellen, das unter den stalinistischen Verformungen der Dialektik von
Sein und Bewusstsein, ganz zugunsten des Seins, worunter lediglich die
Entwicklung der Produktivkräfte und der Technik verstanden wurde, verstümmelt
worden war. Dieses Sein, so behaupteten Bürokraten aller Richtungen, bestimme
schließlich das Bewusstsein. Kofler setzte dagegen seine marxistische
Anthropologie, die, so kann der Leser aus Jünkes Buch schlussfolgern, zwar
gegen die Mechanisierung des menschlichen Bewusstseins steuerte, wonach das
Bewusstseins die Kopie des Seins sein soll, die aber was Jünke richtig als
Schwäche des leidenschaftlichen Denkers ausgemacht, zu einer Vernachlässigung
von Ökonomie und Politik führten. Koflers Anthropologie, die er als
formale kennzeichnete, da ihre einzelnen Bedingungen stets historisch
geprägt würden, nannte insgesamt acht unveränderliche Voraussetzungen
menschlicher Veränderbarkeit; die menschliche Vernunft, die menschliche
Tätigkeit, die Geschichtlichkeit des Menschen und seine Entäußerung, seine
physische und seine psychische Organisation, seine Vergesellschaftung sowie die
Subjekt-Objekt Dialektik. Koflers Theorie, so Jünke, sei eine Metatheorie
eine Art Hilfswissenschaft, die Kofler jedoch für absolut notwendig hält, da
sie der menschlichen Tätigkeit einen gleichsam ethischen Maßstab liefere, ohne
den diese Tätigkeit maßlos, d.h. nihilistisch werde. Die Sehnsucht nach
einerunentfremdeten Harmonie von Arbeit und Spiel speise sich aus einer
rückwärtsgewandten Sphäre- dem erotisch Triebhaften und der Urerinnerung an
das Goldene Zeitalter. Demzufolge entsteht Ethik, nicht, wie Lukacs, den
Kofler gern als seinen Lehrer bezeichnete, aus dem konkreten historischen
Verhältnis von individuellem und Gattungsleben, zu dem die Handlung des
Einzelnen sich in Beziehung und Beurteilung des konkreten Gattungsleben setzt,
sondern aus der Retrospektive in jene Zeit, in der statt Klassengesellschaft das
Matriarchat existierte. Jünke problematisiert Koflers Anthropologie nicht, wie
sie es verdient hätte und er setzt sie nicht kontrastierend in Beziehung zur
Ontologie des späten Lukacs, sondern stellt Koflers Anthropologie
gleichrangig neben diese. Koflers Anthropologie entsprang der Leidenschaft
seines Kopfes die spätbürgerliche Welt, ihre Ideologie, ihre alltäglichen
Verstümmlungen zu verändern, die Menschen in ihrer Entfaltung hindert und
unterdrückt. Diese Leidenschaft richtete sich am Ende seines Lebens jedoch
gegen ihn und wohl dem wichtigsten Teil seiner soziologischen Theorie von der
progressiven Elite. Als die Sowjetunion und die DDR statt eines, von Kofler
stets erhofften, Richtungswechsels einen Systemwechsel erlebte, suchte er dafür
die Bedingungen nicht im gesellschaftlichen Seins und Bewusstsein dieser Länder
selbst, sondern in den Manipulationen des Westens. Was Kofler als progressive
Elite bereits 1957 erkannte und beschrieben hatte, war plötzlich nicht mehr
wichtig für ihn. Dabei ist diese Theorie sicher wichtig um einen heutigen
revolutionären Humanismus zu erkennen und zu fördern. Zehn Jahre vor den
Aktionen der 68er Bewegung, in der die progressive Elite Europas und
Amerikas eine Seite ihrer Möglichkeiten und humanistischen Sehnsüchte zeigte,
schrieb Kofler: Es scheint, dass trotz aller Widersprüche und Schwächen die
in sich amorphe, aber wesentlich progressive Elite ungeachtet ihrer Passivität
allein schon durch ihr Dasein keinen unerheblichen Einfluss auf die
Bewusstseinsbildung der Gesellschaft ausübt und dass sie berufen ist, eines
Tages eine wichtige Rolle zu spielen. Diese progressive Elite schwanke
allerdings zwischen Humanismus und Nihilismus. Es komme daher auf die Erziehung
und Bildung dieser Elite an, damit sie sich mit der Arbeiterbewegung zu einer
Einheit verbinden könne. Die Kritik ist aber, wie Marx schreibt, keine
Leidenschaft des Kopfes. Sie ist keine Predigt oder didaktische Anweisung,
sondern sie ist der Kopf der Leidenschaft, also die Antwort auf Leiden, die
das gesellschaftliche Sein in die Köpfe treibt. Denn Kategorien sind
Daseinsformen, Existenzbestimmungen, sie sind keine Produkte des Denkens über
die Beschaffenheit des Seins, wie Koflers Anthropologie vermitteln möchte. Jede
teleologische Setzung in der Arbeit setzt die Erkenntnis eines kategoriell
bestimmten Seienden voraus. Hier erwächst also die Frage, ob diese Bestimmungen
wirklich bloß Produkte unserer Erkenntnis sind, die auf das jeweilige Sein
angewendet werden, oder aber im Sein selbst bereits objektiv vollständig
vorliegen und vom Denkprozess nur möglichst entsprechend reproduziert werden.
Das gesellschaftliche Sein konstituiert sich als eigenartige Form des Seins
gerade dadurch, dass es aus teleologischen Setzungen entspringt. Aber jede
dieser teleologischen Setzungen bringt lediglich Kausalreihen in Bewegung und
ist nichts an sich teleologisches. Allerdings, hier sind Kofler und Lukacs
einig, entsteht mit der Konstituierung des gesellschaftlichen Seins zum ersten
Mal die Beziehung von Subjekt und Objekt. Diese Beziehung entsteht aber in der
konkreten Arbeit des Subjekts mit dem Objekt. Liegt dieser Arbeit die
Notwendigkeit zugrunde arbeiten zu müssen, um leben zu können, wird diese
Arbeit also von Entfremdung geprägt, klingt es gar zynisch, wenn Kofler auf
diese Entfremdung mit dem Hinweis auf die unentfremdete Einheit von Arbeit und
Spiel hinweist und meint, die Urerinnerung könne ethisches Leben beflügeln.
Kofler setzt, als verständliche Reaktion auf die stalinistischen Verformungen
des Marxismus, auf das Bewusstsein, trennt es dadurch mechanisch vom
gesellschaftlichen Sein, mit dem es aber eine widersprüchliche Einheit bildet.
Es würde kein menschliches Handeln ohne Bewusstsein geben, sagt er. Es gibt
aber menschliche Handlungen ohne Bewusstsein, die richtig sein können. Dies zu
bestreiten würde den Zufall negieren und wäre irrational. Da die Kategorien
eben nicht im Kopf entstehen, sondern außerhalb des selben, handeln wir häufig
richtig, ohne uns darüber im klaren zu sein. Wir haben richtig reagiert,
pflegen wir dies zu kommentieren. Die prägende Kategorie des gesellschaftlichen
Seins ist die Art und Weise, wie Menschen in ihrer Arbeit, der Ökonomie,
miteinander in Beziehung treten. Dies ist keine ideologische, sondern praktische
Frage, die allerdings im Spätkapitalismus ideologisch verschleiert wird. In der
Analyse dieser, im Namen der Entideologisierung vollzogenen, bürgerlichen
Ideologie war Kofler ein Meister. Man müsse die Menschen nicht nur vom
materiellen Elend befreien, sondern von ihrer scheinbaren Zufriedenheit
freiwillig
in die gegebenen Verhältnisse integriert und so
mitschuldig wird an dem alles Menschliche vernichtenden und noch weiter
anschwellenden Strom kapitalistischer Entfremdung. Christoph Jünke hat diesem
leidenschaftlichen Denker des Humanismus nicht nur ein schönes Denkmal zum
100. Geburtstag geschenkt, er hat der progressiven Elite unserer Tage auch
eine wichtige Orientierung gegeben.
Christoph Jünke
Sozialistisches Strandgut
Leo Kofler – Leben und Werk (1907–1995)
VSA-Verlag Hamburg, 2007
39,80 – 701 Seiten
ISBN 978–3–89965–197–3