KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Leitbilder auf dem Weg aus der neoliberalen Sackgasse

Von Birgit Mahnkopf (27.1.2011)

Birgit Mahnkopf fordert die Linken vehement auf, mutige Utopien zu entwickeln. In der Auseinandersetzung um zukünftige Entwicklungsmodelle geht es zuerst um die Köpfe 

Seit Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise wird häufig von einer „Zeitenwende” gesprochen und geschrieben. Vielstimmig beklagt man das Fehlen sozialmoralischer Grundlagen des Kapitalismus. Im Feuilleton wie im Wirtschaftsteil der Zeitungen wird der homo oeconomicus – der im wirklichen Leben ohnehin weit weniger rational handelt und sich von (falschen) Gefühlen treiben lässt: von Gier und Euphorie während des Booms und von Angst und Panik in der Krise – mit unverhohlenem Spott bedacht. Manch einer hat auch schon das Ende des Neoliberalismus, seines Weltbilds und seiner paradigmatischen Leitbilder verkündet.

Doch kommt der Abgesang auf das „neoliberale Einheitsdenken” (Pierre Bourdieu) entschieden zu früh. Denn weder der gegenwärtige Krisendiskurs noch die als (temporäre) Regulierung konzipierten Instrumente der Krisenpolitik zielen darauf ab, die Hegemonie des Neoliberalismus zu brechen und eine andere Welt jenseits der kapitalistischen Marktwirtschaft zu ermöglichen.

Mit dem von Friedrich von Hayek schon Ende der 1940er Jahre geforderten „Mut zur Utopie” ist es den Vertretern der marktradikalen Variante des (Neo-)Liberalismus seit den 1970er Jahren tatsächlich gelungen, den „Glauben an die Macht der Ideen”, den von Hayek nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschworen hatte, zurückzugewinnen. Während jedoch die Idee des neoliberalen laissez faire von freien Märkten seit dem 18. Jahrhundert und bis in die 1970er Jahren von der historischen Wirklichkeit des Kapitalismus wenigstens ein wenig kontrolliert wurde, erhielt die neoliberale Utopie während der letzten Jahrzehnte einen „gewissen religiösen Anstrich”, wie Eric Hobsbawm schreibt. Dafür haben die Mainstream-Ökonomen, die „Theologen des Marktes”, gesorgt – im „ kindlichkindischen Glauben, das der Markt alles von allein regelt”, entging ihnen, dass sich die Krise aufbauen konnte.(1)

Das zentrale Anliegen der „neoliberalen Konterrevolution” (Milton Friedman) zielt bekanntlich darauf, jegliche Einmischung des Staates in das Marktgeschehen rückgängig zu machen und öffentliche Güter, Dienstleistungen und Unternehmen zu privatisieren. Durch eine Vielzahl von Think-Tanks und deren mehr oder minder verdeckte Lobbyarbeit (für Finanz-, Versicherungs- und Medienunternehmen) soll dafür gesorgt werden, dass der Staat selbst zunehmend wie ein Marktakteur agiert, also auf Effizienzsteigerung achtet und weniger auf sozialen Ausgleich.

Erfolgreich waren die neoliberalen Ideologen jedenfalls: Die europäischen Wohlfahrtsregime wurden so umgestaltet, dass der Zugang zu Gütern hoher sozialer Wertschätzung, der in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg de jure oder de facto durch soziale Bürgerrechte garantiert war, nun zunehmend über Vertragsbeziehungen zwischen Wirtschaftsbürgern oder über die Armenfürsorge hergestellt wird. Und es ist Ausdruck neoliberaler Hegemonie, dass heute solche meist geldvermittelten Vertragsbeziehungen mit der Freiheit des Einzelnen gleichgesetzt werden – während die Gesellschaft als Ganze zunehmend unsichtbar wird.

Dies hat schwerwiegende Folgen für die sozialmoralischen Grundlagen der Gesellschaften und für ihre normative Bindekraft. Denn Solidarität – ein Ausdruck asymmetrischer Reziprozität, welche die Beiträge nach der Leistungsfähigkeit des Einzelnen erhebt, Unterstützung jedoch nach Bedarf gewährt – erweist sich unter den Bedingungen allumfassender Vertragsbeziehungen als eine überflüssige, wenn nicht gar irrationale Verhaltensweise. Nur über die Steigerung ökonomischer Wettbewerbsfähig­keit privater Unternehmen, so lautet die neoliberale Botschaft, lasse sich der soziale Ausgleich in Europa verwirklichen. Gleichzeitig erscheinen die von Ökonomen kalkulierten Verluste in Höhe von 20 Prozent des globalen Bruttoinlandspro­dukts (BIP) durch die Folgen des Klimawandels als unvermeidliche Kosten unseres Wachstumsmodells. Unter den Trugbildern, die dazu dienten, diese Ignoranz beständig zu reproduzieren und zu verallgemeinern, war das Versprechen der Globalisierung sicherlich das wirkungsmächtigste. Dessen Mantra lautete ja, dass jede Form von internationaler Arbeitsteilung durch die hypothetische Annahme der dadurch erzielbaren Wohlstandsste­igerung gerechtfertigt sei.

Anhaltende Hegemonie des Neoliberalismus

Die nun im Zuge der Krise viel beschworene „Renaissance des Staates” – der nach wie vor „schlank”, aber auch „kräftig” sein soll – zielt nicht auf Eingriffe des Staates, die sich in einer Schrumpfung der Finanzmärkte auswirken könnten, wie dies von sozialen Bewegungen, insbesondere von „Attac”, seit vielen Jahren gefordert wird. Eine strikte und effektive Regulierung des Finanzsektors steht weiterhin nicht auf der Tagesordnung. Denn der Finanzsektor ist von einer geringen Zahl von Global Players dominiert, die Zugang zu den Regierungen haben, und diese Players sind heute in den USA wie in der EU an der Ausarbeitung von neuen Regeln zur Finanzmarkregu­lierung beteiligt.

Ebenso wenig soll der Staat mit großzügigen Konjunkturpro­grammen und den Mitteln der Fiskalpolitik eine tatsächliche steuernde Politik betreiben, also beispielsweise monetäre Stimuli in der Industrie-, Verkehrs- und Energiepolitik so setzen, dass eine Konversion der überlebten fordistischen Industriezweige angestoßen wird. „Stark” wünscht man sich den Staat lediglich in seiner Funktion, das Geld der Steuerzahler einzusammeln, um damit „Zombiebanken” zu stützen – eine Rolle, für die tatsächlich nur der Staat in Frage kommt. Daneben soll er den in der Krise wachsenden Schuldenberg nicht etwa durch Steuererhöhungen auf hohe Einkommen und Vermögen zu verringern suchen. Die Zusammenhänge zwischen Finanzmarktkrise, Krise des Sozialstaats und Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge sind ebenso tabu wie Debatten über eine Re-Regulierung der Arbeitsmärkte. Es sollen ja nur ein paar Stellschrauben an den für jede kapitalistische Wirtschaft essenziellen Finanzmärkten neu justiert werden, dann – so die Hoffnung – werden die Güter- und Dienstleistun­gsmärkte und die von diesen abhängigen Arbeitsmärkte ganz von selbst ihr „teuflisches Werk” (Karl Polanyi) wieder verrichten.

Angesichts des herrschenden Umgangs mit der Krise muss sich die „Mosaik-Linke”(2) der Frage stellen, wie sie die reale Macht der Neoliberalen in Wirtschaft und Politik ernsthaft herauszufordern gedenkt. Fest steht, dass dabei die „Macht der Ideen”, die den Siegeszug der Neoliberalen angeleitet und zum Erfolg geführt haben, durch nicht minder mutige Utopien gebrochen werden muss. Dies gilt für das Paradigma des Wettbewerbs und der internationalen Wettbewerbsfähig­keit ebenso wie für die Fixierung auf Steigerung von Effizienz und Produktivität. Beide Paradigmen müssen entzaubert und durch zukunftstaugliche Alternativkonzepte ersetzt werden. Für ein anderes Paradigma, das im neoliberalen Diskurs die Rolle der Erbsünde spielt, für den Protektionismus nämlich, gilt hingegen, dass dieser entdämonisiert werden und im Rahmen einer Strategie der De-Globalisierung neue Bedeutungsinhalte erhalten müsste. Und für das zentrale Wachstumsparadigma, das der Neoliberalismus freilich mit anderen Ansätzen der Schulökonomie teilt, steht nichts Geringeres auf der Tagesordnung als der ebenso unvermeidliche wie überaus schwierige Versuch, ein zukunftstaugliches Gegenmodell gesellschaftlicher Produktion und Verteilung zu entwickeln und durchzusetzen.

Kooperation statt Konkurrenz

Der Wettbewerb wird von Studierenden, Unternehmen oder ganzen Volkswirtschaften als Form der Bestenauslese interpretiert. Doch müssen sich weder Unternehmen noch lokale Ökonomien und schon gar nicht ganze Gesellschaften in Konkurrenz zueinander begeben und ausschließlich bestrebt sein, andere im internationalen Wettbewerb zu verdrängen. Denn es ist durchaus möglich, dass Unternehmen, gerade wenn sie sich in öffentlichem oder genossenschaf­tlichem Eigentum befinden, vorrangig im Interesse lokaler Gemeinschaften und im Kontext eines regionalen Wirtschaftsgefüges betrieben werden. Die Herausforderung für die Gesellschaft als ganze bestünde dann eben nicht darin, zur „wettbewerbsfähig­sten Region der Welt” zu werden, wie dies die EU in ihrer Lissabon-Strategie für den Zeitraum 2000–2010 formulierte und nun mit ihrer neuen „Strategie 2020? für die kommende Dekade erneut anstrebt. Ziel wäre stattdessen, Institutionen zu schaffen, die Kooperation anstelle von Wettbewerb ermöglichen oder sogar erzwingen. Dies kann insbesondere dann wichtig sein, wenn hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen unter Bedingungen von Unsicherheit und Ungewissheit gehandelt werden muss. Dann sind Kooperation, Koordination und Planung grundsätzlich besser geeignet, Handlungsoptionen so zu gestalten, dass Prinzipien der Vorsicht, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit zur Geltung gelangen.

Was wirklich wichtig ist für das Zusammenleben von Menschen – also Gemeinschaftsgüter wie Wasser, Gesundheit, Grundnahrungsmit­tel, Bildung, aber auch bezahlbarer Wohnraum, eine gute Verkehrsinfras­truktur, Energie sowie der Zugang zu sozialen Diensten und kulturellen Einrichtungen – sollte entweder gar nicht oder nur in sehr eingeschränktem Umfang dem Wirken von Angebot und Nachfrage überlassen bleiben. Wettbewerb, so könnte das Gegenprinzip zum Neoliberalismus lauten, ist nur dort sinnvoll und zulässig, wo er gesellschaftliche Kooperation nicht gefährdet.

Die Eindimensionalität der „Effizienz”

Das Paradigma der Effizienzorien­tierung, welches das einzelwirtschaf­tliche Kalkül eines optimalen Zweck-Mittel-Einsatzes und die Suche nach dem „besten Weg” auf alle Einrichtungen des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens überträgt (und davon weder Bildungs- noch Kultureinrichtungen ausnimmt), ist gleich in mehrfacher Hinsicht in Frage zu stellen. Zum einen wird dieses Paradigma regelmäßig herangezogen, um die Überlegenheit privater Akteure gegenüber staatlichen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen und folglich die Liberalisierung und Privatisierung wesentlicher Bereiche der Daseinsvorsorge zu rechtfertigen – obwohl sich diese Überlegenheit außer für die Telekommunika­tionsindustrie empirisch nicht verifizieren lässt. Fatal ist weiterhin, dass die möglichst effiziente Erledigung gleich welcher Aufgaben als ein selbstverständliches und erstrangiges Ziel gilt, obwohl damit in der Regel zugleich die Absicht verbunden ist, die Produktivität der Arbeit zu steigern und durch Innovationen den sozioökonomischen Wandel zu beschleunigen – ohne Rücksicht auf die beschäftigungspo­litischen und ökologischen Folgen von gesteigerter Produktivität und beschleunigtem Innovationstempo.

Innovationsprozesse sind ja zunächst einmal Prozesse der Zerstörung und Entwertung von „Altem” und dessen Ersetzung durch „Neues” unter Abstraktion vom Inhalt. Dabei muss das Neue keineswegs immer „besser” sein als das substituierte Alte. Selbst wenn das Ziel von Effizienzsteigerung und Innovationswet­tbewerb darin bestünde, Produkte, Güter und Dienstleistungen mit immer geringerem Ressourcen- und Energieeinsatz und sehr viel weniger Umweltbelastungen zu erzeugen, so muss doch auch zukünftig mit dem sogenannten rebound effect gerechnet werden, also damit, dass wie bei allen bisherigen Effizienzstei­gerungen die Einsparungen pro Leistungseinheit nicht zu einer gesamtgesellschaf­tlichen (oder gar zu globalen) Entlastung führen. Denn nachweislich werden Einsparungen, die aus technischen Fortschritten resultieren könnten, sofort in Kostensenkungen umgesetzt; diese aber führen zu mehr Konsum, mehr Mobilität, fortschreitender Urbanisierung, zu Individualisierung und vor allem zum effizienten Einsatz der neuen Technologien, mithin auch zu einem Anstieg der Arbeitsproduk­tivität. Solange Innovationen in erster Linie als technologische verstanden werden, solange Fortschritt als Produktivitätsste­igerung pro Kopf firmiert und solange die Sicherung sozialer Wohlfahrt und demokratischer Verhältnisse nur über die Fixierung auf industrielles Wachstum vorstellbar ist, gleicht der Innovationswet­tbewerb dem Bestreben, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Doch noch aus anderen Gründen sollte die Effizienzorien­tierung insbesondere für Unternehmen und Einrichtungen, die anderen als nur kommerziellen Zielen dienen, grundsätzlich in Zweifel gezogen werden. Denn es gibt Zielsetzungen, die schwerlich mit dem Ziel vereinbart werden können, das Verhältnis von eingesetzten (monetären) Mitteln und return on investment zu optimieren: etwa das Streben nach Gerechtigkeit oder Gleichheit, nach sozialem Zusammenhalt oder ökologischer Nachhaltigkeit. Wenn es auch oder gar vorrangig um die Qualität einer Leistung, um den gleichen Zugang aller Bürgerinnen und Bürger, um die demokratische Beteiligung an der Planung, Regulierung und Kontrolle durch Beschäftigte, Bürger, Politiker und Experten oder um die ökologischen Rahmenbedingungen von Produktion und Dienstleitungen geht, kann und sollte die Frage der Effizienz mit guten Gründen als nachrangig behandelt werden. Einmal ganz abgesehen davon, dass die Vielfalt der gesellschaftlichen Institutionen schrumpft, wenn das eindimensionale Effizienzkriterium auf unterschiedliche nationale oder regionale Institutionen (wie das Bildungswesen oder die sozialen Sicherungssysteme) einzig mit Blick auf deren Kosteneffizienz angewandt wird. Dann geht es ja nur noch darum, unter Rückgriff auf betriebswirtschaf­tliche Methoden wie das benchmarking die „leistungsfähigste” Variante zu ermitteln. Doch was unter den Bedingungen hohen Kostendrucks auf öffentliche Kassen als „effizient” gelten mag, kann sich schon morgen als fatal kurzsichtige und ineffiziente Organisationsform erweisen. Ähnlich wie es mit Blick auf die natürliche Evolution nötig ist, die Biodiversität als Potential für heute noch gar nicht absehbare zukünftige Veränderungen der Arten zu erhalten, gehört ein Minimum an institutioneller Vielfalt – insbesondere in einem so heterogenen Gebilde, wie es die EU darstellt – zu den zentralen Voraussetzungen für künftige Entwicklungen.

Lob des Protektionismus

Immer wenn im Zusammenhang mit dem grenzüberschre­itenden Handel und mit ausländischen Direktinvestitionen von Wirtschaftsun­ternehmen der Vorwurf des „Protektionismus” erhoben wird, sehen sich Kritiker der „corporate globalisation” gezwungen zu betonen, dass sie ja eigentlich nicht grundsätzlich etwas gegen die wirtschaftliche Globalisierung hätten, nur eben gegen deren Wirkungen – auf kleine und abhängige Wirtschaften, kleine Unternehmen und Agrarbetriebe, auf Arbeitnehmerinnen und Sozialstaatsbürger und vor allem auf die Umwelt. Als Verteidiger des Protektionismus möchte niemand gesehen werden.

In Auseinandersetzung mit dem marktvergötzenden Denken der herrschenden Ideologie kommt es jedoch darauf an, auch den Begriff des Protektionismus neu zu deuten. Denn weltweiter Handel und ausländische Direktinvestitionen können nicht als Selbstzweck gelten. Sie sind lediglich Mittel zum Zweck der menschlichen Entwicklung und Sicherheit, der Beförderung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten, und nur in diesem Sinne kann von der Liberalisierung von Handel und Investitionstätig­keit eine positive Wirkung ausgehen – vorausgesetzt, ihre ökologischen Folgen sind beherrschbar. Ziel eines grenzüberschre­itenden Handelssystems kann es daher nicht sein, nationale Märkte um jeden Preis für ausländische Anbieter und Investoren zu öffnen.

Sicherzustellen wäre vielmehr, dass die Handel treibenden Nationalstaaten (insbesondere jedoch die bereits entwickelten Industriestaaten) sich in erster Linie für den Schutz derjenigen ökonomischen Strukturen zuständig erklären, von denen die Mehrzahl der Bewohner abhängig ist – und das sind überall in der Welt die lokalen und regionalen Wirtschaftsstruk­turen und -einheiten. Dies schließt freilich ein, dass andere Regierungen nicht darin gehindert werden, dasselbe für ihre Bevölkerungen zu tun.

In zweiter Linie aber wäre dafür zu sorgen, dass für das Tun und Lassen wirtschaftlicher Akteure – die sich auf die Recht setzende und Recht erzwingende Macht nationalstaatlicher oder, wie im Falle der EU-Staaten, supranationaler Gewalt stützen und zum Schutz ihrer ausländischen Investitionen vermehrt auf bilaterale oder multilaterale Abkommen zurückgreifen können – auch extraterritorial in die Pflicht genommen werden. Dabei sollte es jeder Regierung möglich sein, ein Höchstmaß an ökonomischer Diversität zu schützen, zu fördern und zu erhalten, also im Falle Deutschlands eben nicht nur die „wettbewerbsfähi­gen” High-Tech-Bereiche der exportorientierten Industrie, sondern auch die Sektoren und Betriebe im mittleren und niedrigen Technologiesegment. Denn in der Regel ist es diese Diversität – und nicht die Spezialisierung auf komparative Kostenvorteile -, auf der längerfristig ökonomische Entwicklungschancen basieren. Es geht darum, ökonomische Strukturen vor Ort, in den Regionen vor ruinösem Wettbewerb zu schützen und den grenzüberschre­itenden Austausch von Ideen, Technologie, Informationen, Kultur, Geld und Gütern nur mit dem Ziel zuzulassen, die Kooperation für das „Beste”, nicht aber die Konkurrenz um das „Billigste” zu fördern. Solcherart Protektionismus lässt sich mit guten Argumenten verteidigen – im industrialisierten Norden wie in den Ländern des globalen Südens. Denn auf diesem Wege lässt sich ökologisch oder sozial schädlicher, überflüssiger Handel reduzieren, ohne dass der Austausch von wissensintensiven Gütern und Dienstleistungen darunter leiden müsste.

Umverteilung statt „Fetisch Wachstum”

Die wohl schwierigste, gleichwohl wichtigste Aufgabe für eine „Mosaik-Linke”, die ein zukunftsfähiges gesellschaftliche Reformprojekt beginnen will, besteht zweifellos darin, eine konsistente, ökonomisch tragfähige und sozial akzeptable Alternative zum Wachstumsparadigma zu formulieren. Vornehmlich, doch nicht ausschließlich aus ökologischen Gründen kann in Zukunft auf die Zauberformel exponentiellen Wirtschaftswachstums nicht mehr vertraut werden – jene Zauberformel, die es den westlichen Ländern zwei Jahrhunderte lang ermöglichte, die soziale Frage auf Kosten der Umwelt einer zumindest temporären Lösung zuzuführen. Damit rückt die Aufgabe, dass die Grundlagen der öffentlichen Wohlfahrt primär auf Umverteilung statt auf regelmäßige und dauerhafte Überschusspro­duktion zu gründen sind, ins Zentrum einer Kritik der politischen Ökonomie.

Auch wenn das gesellschaftliche Leben der Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in nahezu allen Dimensionen von ökonomischem Wachstum geprägt ist, das geradezu die Gestalt eines „Fetischs” angenommen hat,(3) können die ökonomischen, finanziellen, sozialen und vor allem die ökologischen „Grenzen des Wachstums” nicht länger ignoriert werden. Viele Menschen außerhalb der westlichen Welt erfahren diese Grenzen schon heute in Form einer Zunahme von gewaltsamen Konflikten und massiven Verwüstungen. Ökonomisches Wachstum mag die einen mit Gütern, Kapital und Einfluss ausstatten; es erzeugt jedoch zur gleichen Zeit die Armut der anderen. Denn ökonomisches Wachstum gründet auf Produktivitätsfor­tschritten, in deren Folge Menschen als Arbeitskräfte „überflüssig” gemacht werden – und die Optionen, die ihnen dann bleiben, sind allesamt wenig erbaulich: die Flucht vom Land auf die verstopften Arbeitsmärkte der Großstädte, die Prekarität des informellen Sektors, die manchmal lebensgefährliche Migration in die wie Festungen abgeschirmten Wohlstandsinseln des Nordens. Zugleich erzeugt dieses Wachstum einen Überfluss an Waren, der immer größer wird, weil Menschen, die nicht über genügend Kaufkraft verfügen, die immer effizienter erzeugten Lebensmittel-, Kleider- und Computerberge gar nicht konsumieren – und das heißt im lateinischen Wortsinn: vernichten – können.

Gleichwohl beharrt die Ökonomenzunft darauf, dass die einzelnen Volkswirtschaften wie die Weltwirtschaft auch in Zukunft in ähnlichem Umfang wie bisher wachsen können und müssen, weil nur so harte soziale Konflikte zu vermeiden seien. Richtig ist, dass ohne Gegensteuerung die kapitalistische Ökonomie wohl zunächst weiter wachsen wird – vor allem innerhalb des globalen Finanzsystems, und zwar in Form der Kredite, die an private Akteure oder Staaten vergeben werden. In der gegenwärtigen Weltfinanzkrise zeigt sich jedoch, dass jedem Kredit gleich hohe Schulden auf der Sollseite der Bilanz entsprechen, und das geht anscheinend nur, wenn die reale Ökonomie wächst. Nun ist die systematische Überproduktion im Kapitalismus zwar das Prinzip und nicht die Ausnahme, doch ist die Produktion über allen Bedarf hinaus zugleich an die Bedingung gebunden, dass nach Abzug der Produktionskosten auch ein Profit verbleibt. In vielen Bereichen der industriellen Produktion aber ist genau dies heute nicht mehr garantiert.

Mit der Ausweitung der marktgesteuerten Produktion werden immer mehr Kapital und immer mehr Rohstoffe benötigt, um die Produktivität zu steigern. Da mit der Steigerung der Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen zugleich die Rate des relativen Wachstums sinkt, verringert sich mit der Reichtumsvermehrung die Möglichkeit zu einer weiteren, noch größeren Mehrung des Reichtums. In der Folge verlangsamt sich das Wachstum, und der Aufschwung fällt nach jeder Krise schwächer aus; Beschäftigung und Löhne steigen in geringerem Umfang als früher, die gesamtwirtschaf­tliche Nachfrage sinkt. Dieses Problem versuchte man durch einen massiven Druck auf die Löhne zu lösen. Da sich die Zahl der Erwerbspersonen seit Anfang der 90er Jahre nahezu verdoppelt hat, konnte die Umverteilung von den Lohn- zu den Kapitaleinkommen auch tatsächlich gelingen. Doch längerfristig wird sich dies als Pyrrhussieg erweisen, denn bei einer wachsenden ungleichen Verteilung können eben nicht genügend Güter und Dienstleistungen auch gewinnbringend veräußert werden. Die notwendige Folge ist ein Zusammenbruch der Konsumdynamik – es sei denn, dies wird durch eine wachsende private und öffentliche Verschuldung verhindert, wie dies in den letzten Jahrzehnten in den USA geschehen ist, oder durch weltmeisterliche Exporte externalisiert, also auf andere Länder abgewälzt. Allerdings hängt in diesem Fall die Realwirtschaft von der Verschuldung ab, die wiederum von Spekulationsblasen genährt wird. Wenn also Geldvermögensbe­sitzer aus Mangel an profitablen Investitionsmöglichke­iten in die „virtuelle Ökonomie” der Finanzmärkte flüchten, mag dies kurzfristig einen Ausweg aus der Profitklemme versprechen. Das zugrunde liegende Problem, die ungleiche Verteilung der Einkommen, wird dadurch allerdings nicht gelöst. Weltweit werden deshalb zu viele Vermögen angehäuft, für die es keine rentablen Investitionsmöglichke­iten mehr gibt, während gleichzeitig der Anteil der Löhne am BIP seit Jahren sinkt.

Entscheidend aber ist, dass es unterhalb der Realökonomie noch eine „reale Realökonomie” gibt, nämlich die Energie- und Materialströme, deren Wachstum nur zum Teil von ökonomischen Faktoren abhängt, zu einem anderen – und größeren – Teil jedoch von den Grenzen der verfügbaren Ressourcen und von begrenzten Schadstoffsenken. Die ökologischen Grenzen der „realen Realökonomie” mögen dehnbar sein, doch sind sie eben nicht unendlich.

Kurzfristig mag ein „grüner Kapitalismus”, ein „Green New Deal”, helfen, die globale Finanz- und Wirtschaftskrise in den Industrieländern zu überwinden, die ökologischen Grenzen noch ein wenig hinauszuschieben und die soziale Frage zu entschärfen. Fraglos wird allein eine starke Ausweitung der öffentlichen Investitionen insbesondere in die soziale Infrastruktur und in den Ausbau erneuerbarer Energieträger dabei helfen, den weiteren Anstieg der Massenarbeitslo­sigkeit zu bremsen. Längerfristig wird es aber eher darum gehen müssen, in den reichen Ländern der industrialisierten Welt mit einem moderaten Schrumpfen des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens zurechtzukommen. Wenn entsprechende Institutionen eine Umverteilung der monetären Einkommen garantieren, könnte eine solche Schrumpfung in der EU um beispielsweise zehn Prozent durchaus ohne Wohlstandsverluste zu verkraften sein, und diese Schrumpfung müsste, das zeigt die neue „Zufriedenheit­sforschung”, noch nicht einmal mit Einbußen an persönlichem Wohlbefinden verbunden sein.

Gelingen könnte dies freilich nur, wenn das zugegebenermaßen schwierige, aber nicht gänzlich unrealistische Projekt einer umfassenden „De-Kommodifizierung” der sozialen Existenz, das heißt deren Abkopplung vom Markt, in Angriff genommen würde. (4) Ein solches Projekt müsste weit über eine „sozialverträgliche Regulierung” des Wettbewerbs hinausgehen und so viele Güter und Dienstleistungen wie irgend möglich vom Markt nehmen – und in die öffentliche oder gemeinschaftliche Verantwortung und Kontrolle zurückholen. Zentral wären dabei zum einen der universelle und gleiche Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zu lebenswichtigen Gütern und Diensten, ein garantiertes Grundeinkommen sowie eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit und Einführung eines auskömmlichen gesetzlichen Mindestlohns.

Zum anderen aber ginge es um einen großen, innovativen und öffentlich organisierten Sektor, der gleich mehrere Funktionen erfüllen müsste: die Qualität des Angebots sichern, durch die Entwicklung neuer, partizipativer Nutzungsmodelle einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft leisten, qualitativ hochwertige Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, die Arbeitslosigkeit reduzieren und nicht zuletzt innovative Produkte, Produktionstechni­ken oder Dienstleistungen entwickeln, die der Herausbildung eines neuen Produktions- und Konsummodells dienen, das den kollektiven Konsum dem individuellen vorzieht. So könnten die Grundlagen geschaffen werden für Konversionsprojekte in Teilen der Metall-, Elektro-, Chemie- und Pharmaindustrie, für einen Umbau der Städte und der Verkehrsinfras­truktur sowie für eine Wiederbelebung lokaler und regionaler Industrie- und Agrarstrukturen.

Ein Umsteuern der globalen Wirtschaft, die unter allen Umständen von fossilen Energieträgern abhängig bleibt, zu Netzwerken lokaler Wirtschaften, die mit dezentralen und erneuerbaren Energieträgern betrieben werden, kann freilich nicht gelingen ohne eine gewaltige Schrumpfung des Finanzsektors und damit der monetären Ansprüche, die in diesem angehäuft werden. Das ist die zentrale Voraussetzung für dezentrale Demokratien, in denen die Menschen vor Ort darüber mitbestimmen können, was mit ihnen, ihrem Land, ihrem Wissen und Können, ihrem Leben geschieht.

Birgit Mahnkopf ist Professorin für Europäische Gesellschaftspo­litik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Dieser mit freundlicher Genehmigung der Autroin abgedruckte Text basiert auf einem Vortrag auf der Konferenz „Kapitalismuskritik heute. Zum Forschungsprogramm von Jörg Huffschmid” vom 20. Februar 2010 in Berlin und erschien auch in der Mai-Ausgabe 2010 der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Anmerkungen

(1) Eric Hobsbawm, In der dritten Krise, in: Friedrich-Martin Balzer und Georg Fülberth (Hg.), Zwischenwelten und Übergangszeiten. Interventionen und Wirtmeldungen, Köln 2009; ders., „Es wird Blut fließen, viel Blut”. Interview im „stern”, 20/2009.

(2) Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: „Blätter”, 5/2009, S. 71–78.

?(3) Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen, Münster 62009.

?(4) Vgl. Christoph Herman und Birgit Mahnkopf, Past and Future of the European Social Model, Institute for International Political Economy Berlin (IPE Berlin), Working Paper, Nr. 5/2010.

Birgit Mahnkopf ist Professorin für Europäische Gesellschaftspo­litik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin.

Quelle: Blätter für deutsche und interntionale Politik – nach einem Vortrag auf der Konferenz „Kapitalismuskritik heute. Zum Forschungsprogramm von Jörg Huffschmid“, Februar 2010.

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