KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Reinhart Sellner: Input zur Sekundarstufe II

(5.11.2012)

Input von Reinhart Sellner für den Workshop zur Sekundarstufe II, Internationale Bildungskonferenz "Education for a Society of Solidarity", Wien, 19.-20. Oktober 2012.
[Download als pdf: hier]

Workshop zur Sekundarstufe II

„… man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ 

Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

Die Sekundarstufe II bringt in Österreich wie in anderen Staaten mit differenziertem Schulsystem das Fortschreiben sozialer Ungleichheit. Soziale Stellung,Vermögen, Ausbildung und Einkommen der Eltern bestimmen die Bildungszugänge, Bildungs- und Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen.

Der sozial selektiven Schulorganisation mit dem ständestaatlichen Nebeneinander von Hauptschule („neue Mittelschule“) und AHS-Unterstufe entspricht die unterschiedliche Ausbildung (PH-BA – Uni-MA oder Mag.) und Bezahlung der LehrerInnen und eine doppelte Schulverwaltung mit unterschiedlichen Dienstgebern (Bund + 9 Bundesländer), Dienstrechten und Verwaltungsstruk­turen (VS, HS, Poly, BS = APS-LandeslehrerInnen, AHS, BMHS = Bundeslehrerinnen). Dem entsprechen auch 5 nebeneinander und gegeneinander agierende, ÖVP-dominierte LehrerInnenge­werkschaften und Personalvertre­tungen (zu APS-, BS-, AHS-, BMHS-Gewerkschaften kommt noch die der zum Landwirtschaf­tsministerium ressortierenden Landwirtschaf­tslehrerinnen).

Basis für jede Reform der Sekundarstufe I unter Einschluss der 9. Schulstufe wäre eine Schulverwaltun­gsreform, die ist weiterhin nicht in Sicht. Wie in Deutschland und der Schweiz gibt es in der Gesetzgebung keinen politischen Konsens zu Bildungsfragen: ÖVP, ÖVP-Landeshauptleute und FPÖ (!) wollen die soziale Diskriminierung durch Bildung samt Landesparteihoheit über die Pflichtschulleh­rerInnen beibehalten, während SPÖ und Grüne und die Reste des BZÖ für eine gemeinsame Schule der 10-bis 14-Jährigen eintreten und für eine (1) Bundesschul-Kompetenz samt mehr Standort-Autonomie. Auf Sozialpartner-Ebene gibt es zwischen ÖGB (nur die „Beamtengewer­kschaft“ GÖD vertritt die ÖVP-Linie), AK, BWK und IV, gemeinsame Schulreformfor­derungen in Richtung Gesamtschule, wenn auch mit unterschiedlicher Motivation, gegen Arbeitslosigkeit, für Profit und internationale Wettbewerbsfähig­keit … In der ÖVP gibt es zunehmend Widersprüche.

Wie in allen kapitalistischen Staaten gibt es restriktive Bildungs- und Sozialbudgets, über vermögensbezogene Steuern, soziale Umverteilung und Bildungsoffensive wird viel geredet.

Zwei Diskussionsthemen, zwei Vorschläge für den Wiorkshop:
  • Pflichtschulab­schluss für alle als Abschluss der Sekundarstufe I
  • „vertiefte Allgemeinbildung“ und „Studierfähigkeit“ in der Sekundarstufe II

Pflichtschulab­schluss für alle als Abschluss der Sekundarstufe I

Voraussetzung für den Übertritt in eine weiterführende Schule ist nicht die Erfüllung der Schulpflicht, sondern ein positives Zeugnis der 8. Schulstufe („Pflichtschu­labschluss“)

In Österreich gibt es keinen verbindlichen Pflichtschulab­schluss für alle, da die Schulpflicht nach der Zahl von 9 absolvierten Schuljahren bemessen wird, unabhängig von ihrem positiven Abschluss, d.h. Vorschuljahre („Zurückstellung“ in der 1. Klasse Grundschule bzw. Wiederholung von Schulstufen zählen als absolvierte Schulpflichtjahre). Mehr als 20% der 16-Jährigen in Österreich fehlen ausreichende Grundkompetenzen in Lesen, Schreiben, Rechnen oder einer lebenden Fremdsprache, darunter viele, die vor der 8. Schulstufe aus dem System gefallen sind.

In Österreich besteht eine Diskrepanz zwischen der Schulpflicht (9 Jahre Schulbesuch, beginnend mit dem vollendetem 6. Lebensjahr) und dem Pflichtschulab­schluss mit einem positiven Jahreszeugnis der 8. Schulstufe (4. Klasse Hauptschule, “neue Mittelschule“ der APS/Landeskompetenz bzw. 4. Klasse der AHS-Unterstufe). Dieses Zeugnis ist Voraussetzung für die weitere Schullaufbahn in der Sekundarstufe II, d.h. AHS-Oberstufe (9.-12. Schulstufe/Ma­tura) oder BMHS (9.-13. Schulstufe/Ma­tura) bzw. der 1-jährige Polytechnische Lehrgang für alle, die keine AHS/BMHS besuchen und bisher ohne Schulstufenwi­ederholung, d.h. ohne 9. Pflichtschuljahr geblieben sind.

Problembereich 9. Schulstufe

Beginn der regulären BMHS-/AHS-Schullaufbahn bis zur Matura
oder
einjähriges Polytschnisches Schuljahr/APS zur Absolvierung des 9. Pflichtsch­uljahres, zur Vorbereitung auf eine Lehre und Hilfe beim Finden einer Lehrstelle
oder
Vermeiden des „Poly“ durch Absitzen des 9. Pflichtsch­uljahres in einer 1. Klasse BMHS, BMS oder der 5.Klasse AHS
oder
Duale Lehrlingsausbildung (Lehrbetrieb + Berufschule) ohne Polytechnisches 9. Schuljahr, sofern durch Vorschuljahr oder Wiederholung einer Klasse bereits neun Schuljahre absolviert und die 4. Klasse positiv abgeschlossen wurde
oder
kein Schulbesuch auf der 9. Schulstufe, weil bereits zumindest 1 Schuljahr wiederholt wurde bzw. ein Vorschuljahr absolviert worden ist und damit die 9 Pflichtjahre absolviert sind.

Für viele sozial benachteiligte Jugendliche, darunter MigrantInnen und AsylwerberInnen, endet Schulpflicht ohne ein positives Zeugnis der 4. Klasse, oft schon nach der 2. oder 3. Klasse Haupt- oder Sonderschule.

Über 20% der 16-Jährigen sind „funktionale Analphabeten“, verfügen nicht über ausreichende Kompetenzen in Deutsch, Mathe, Englisch und haben wenig Chancen auf Nachholen des Hauptschulabschlus­ses, auf Weiterbildung und Beschäftigung, werden schwer vermittelbare Arbeitslose.

Reformansätze

sozial-integrative Neuorganisation der 9. Schulstufe als Pflichtschulab­schluss am Ende der 9. Schulstufe – letzte Schulstufe einer gemeinsamen Schule: 8. und 9. Schulstufe mit Schwerpunkt Bildungswegen­tscheidung – Berufsorientierung vor dem Übertritt in duale Berufsausbildung, BMHS oder AHS

  • Vorbereitende Module in der 8. Schulstufe
  • Modulare 9. Schulstufe mit individuellen Schwerpunktsetzung
  • Integration von
    Inhalten des Polytechnischen Lehrgangs, insbesondere Berufs-Praktika,
  • Integration von

    Inhalten der dzt. 1. Klasse BMHS, 5. Klasse AHS, Praktika an BMHS und AHS

  • Individuelle Förderung durch nachholende Module in den Grundkompetenzen, auf Basis der Standard-Erhebung 8. Schulstufe
  • Nachweis des Pflichtschulab­schlusses durch individuell zu gestaltende Abschlussmappe/Por­tfolio, die Folgendes enthalten könnte:
    • positiver Abschluss der Pflichtschule (Zeugnis der 9. Schulstufe mit allen positiv absolvierten Modulen, Nachweis Grundkompetenzen / Erreichen der Bildungsstandards der 8. Schulstufe),
    • exemplarische Arbeitsergebnisse aus Schwerpunktmodulen, auch Freizeitaktivitäten, Teilnahme an Kursen, Wettbewerben …
    • soziales, kulturelles und sportliches Engagement in und außerhalb der Schule (SchülerInnen­vertretung, Tutoren-, Mediationstätig­keit, Schulveranstal­tungen, Wettbewerbe… NGOs, Sportverein, Kultur-Initiativen…)
    • Motivationstext zum weiteren Bildungsweg auf der Sekundarstufe II, interessierende Berufsfelder …

„vertiefte Allgemeinbildung“ und „Studierfähigkeit“ in der Sekundarstufe II

BMHS:

AbsolventInnen, aufnehmende Betriebe/Insti­tutionen und Interessensver­tretungen von ArbeitnehmerInnen und UnternehmerInnen sind mit der BMHS-Ausbildung, dem „internationalen Aushängeschild“ der österreichischen Schule einigermaßen zufrieden. Unzufriedenheit gibt es allerdings mit der 9. Schulstufe, nach der viele SchülerInnen die BMHS verlassen, auch weil sie nicht mit den unvermittelt einsetzenden hohen Belastungen zu recht kommen.

Die BMHS reagieren vergleichsweise flexibel auf Wirtschafts- und Arbeitsmarkten­twicklungen. Schulbetrieb, Lehrpläne werden von Wirtschaftskammer und Sozialpartnern mitbestimmt, Wirtschaftskammern und wirtschaftsnahe Institutionen agieren vielfach als Schulerhalter, der Übergang zu privat geführten, großteils öffentlich finanzierten Fachhochschulen war/ist fließend. (vgl. Arbeitsgruppe Berufsausbildung).

Die starke Ausbildungskom­ponente im vollen, dichten Stundenplan bewirkte und bewirkt weiter die Marginalisierung der allgemeinbildenden Fächer und Inhalte, die zu demokratischer Teilhabe an Politik, Wirtschaftsleben und Kultur motivieren und Raum für die Reflexion individueller und gesellschaftlicher Lebensentwürfe ge­ben.

Die BMHS funktioniert. Im Interesse der Unternehmer und im Interesse von Studierenden aus Familien ohne bildungs-bürgerliche Tradition und ohne finanziellen Spielraum für ein weiterführendes Universitätsstudium der Kinder.

AHS (dem Namen nach wie BMHS eine Schulzweig der Sekundarstufe II):

Die AHS, in der Regel die Sekundarstufe II-Fortsetzung einer AHS-Unterstufe, hat ihre traditionelle Ausrichtung einer Vorbereitung auf ein Universitätsstudium und die Berufsperspektive „Maturantenjob“ im öffentlichen Dienst, bei Post, Bahn oder Banken verloren.

Wahlpflichtfächer im Ausmaß einiger weniger Wochenstunden oder die gegen das Abwandern von SchülerInnen an BMHS versuchte schulautonome Spezialisierung auf Informatik, Naturwissenschaf­ten, Sprachen oder Kommunikation/Me­dien haben daran nicht ändern können, aber die Arbeitssituation an einzelnen Schulen verbessert. Das Engagement von LehrerInnen für mehr berufsorientierte und alltagspraktische Ausbildungsinhalte und auf Eigenständigkeit abzielende, kompetenzorien­tierte Unterrichtsformen förderten die Motivation der Lernenden, diese Spezialisierung ging aber auch an den AHS auf Kosten allgemeinbildender Inhalte, die zu sozialem Engagement, zur demokratischen Teilhabe an Politik, Wirtschaftsleben und Kultur motivieren und die Raum für die Reflexion individueller und gesellschaftlicher Lebensentwürfe geben. Zur Unklarheit über das Bildungsziel der AHS und zu der im österreichischen Schulwesen strukturell angelegten lern-feindlichen Fixierung aufs Fehlervermeiden, auf positive Jahresnoten und ein positives Maturazeugnis (längst ohne Gewähr für Studienplatz oder gut bezahlten Job, die alle Studierenden und LehrerInnen betrifft, kommt die Ratlosigkeit von AHS-Unterstufenschüle­rInnen, die sich für keine bestimmte BMHS entscheiden konnten und deshalb an der vertrauten Schule geblieben sind, auch wenn sie nicht recht wissen wozu. Die in den Medien verbreiteten Klagen der aufnehmenden Universitäten über fürs Studieren unzureichend vorgebildete MaturantInnen runden das Bild ab.

AHS-Reformansätze:

„Gymnasium NEU“ (als Kampfbegriff gegen die ÖVP- und FPÖ-Retter des Gymnasiums und des sozial selektierenden differenzierten Schulsystems vor der Einheitszwangstag­sschule) von der 10. bis 12.(13.?) Schulstufe.

Bildungsziel: individuell vertiefte Allgemeinbildung (Komenskys „Bildung aller in allem“, Orientierungswissen in Sprachen und Literatur, Mathematik, Natur- und Gesellschaftswis­senschaften) und Erwerb der für selbständiges und gemeinschaftliches Arbeiten an Universitäten oder Ausbildungsein­richtungen des Tertiären Bereichs notwendigen Kompetenzen

Organisation: Kurssystem, ähnlich den skandinavischen Ländern, mit klarer Trennung von Lernphasen und anschließender schriftlicher oder mündlicher Überprüfung (z.B. 5 Lernwochen, in denen 3, 4 Kurse belegt werden, anschließend Prüfungswoche). Mit Ausnahme der Unterrichtssprache und Grundkursen in Natur- und Gesellschaftswis­senschaften weitgehend freier Wahlmöglichkeit, entsprechend den Stärken und Interessen der Studierenden.

AHS-Abschluss (vgl. aktuell verschleppte Maturareform)

  • Vorwissenschaf­tliche Einzel- oder Teamarbeit in einem Interessensgebiet,
  • mündliche Reifeprüfung mit individueller, ev. auf Studienabsichten ausgerichteter Schwerpunktsetzung,
  • standardisierte kompetenzorien­tierte schriftliche Reifeprüfung, mit der alle AbsolventInnen in den Kompetenzbereichen Sprachen und Mathematik den Erwerb der Mindestanforde­rungen für tertiären Bildungserwerb nachweisen.

19.10.2012
Reinhart Sellner,
Lehrer + Liedermacher,
Unabhängiger Gewerkschafter
in der Gewerkschaft öffentlicher Dienst (UGöD)

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