KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Der Zapatismus als Aufstand der Gesellschaft

Von Esteva, Gustavo (7.10.2001)

ZITIERT

Der Zapatismus als Aufstand der Gesellschaft

Die radikale Demokratie

Das demokratische Ideal ist heutzutage universal und wird nirgendwo angezweifelt. Gleichzeitig ist es vollkommen verwässert. Für die Demokratie zu sein, hat keine konkrete Bedeutung mehr und lässt die verschiedensten Standpunkte zu. Die Zapatisten beschäftigen sich nicht so sehr damit, die herkömmliche Idealisierung dieses Begriffs einer Kritik zu unterziehen, als vielmehr die Nacktheit des Kaisers zu zeigen. Sie bringen mit lauter Stimme auf die Tagesordnung, was vorher ein öffentliches Geheimnis war, das viele teilten, aber nur wenige zu proklamieren wagten: die allgemeine Enttäuschung über die Wirklichkeit der Demokratie. Die zunehmende Wahlenthaltung und die schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien deuten schon seit längerem auf das wachsende Bewusstsein hin, dass die Demokratie eine Regierungsform ist, bei der nur eine Minderheit des Volkes, und fast immer eine Minderheit der Wähler, die politische Partei bestimmt, die das Land regiert. Eine Regierungsform, bei der nur eine verschwindende Minderheit dieser Partei und über die Meinung der Gesellschaft hinweg entscheidet, wer die Zügel der Regierung in der Hand halten wird, und bei der die Regierungen ihre Entscheidungen am Rand, jenseits und sogar im Widerspruch zu Parteiprogrammen, Wahlversprechen oder öffentlichen Konsensen treffen. Aber bisher schien es keine andere Möglichkeit zu geben. Die Zapatisten haben einem Kampf um Demokratie Legitimität gegeben, der sich weder den demokratischen Täuschungen hingibt noch danach trachtet, zu einem vorübergehenden oder permanenten despotischen Ersatz derselben zu werden. Es handelt sich um einen Kampf, der nicht bezweckt, die „demokratische Macht“ zu erobern, sondern die Räume, in denen die Leute ihre Macht ausüben, zu erweitern, zu verstärken und zu vertiefen.

Den Zapatisten ist es gelungen, deutlich zu machen, dass Demokratie für viele Leute Macht des Volkes bedeutet. Sie haben damit nicht etwa eine grob vereinfachende und rhetorische Version der Reden über die Demokratie entworfen, sondern sie erfassen ihr Wesen. Letztendlich ist Macht des Volkes nichts anderes als die Übersetzung des griechischen Wortes Demokratie, das sich aus demos – das Volk, die Menschen, der Wirkungsbereich der Gemeinschaft – und aus kratos – Kraft, Macht – zusammensetzt. Für diejenigen, die das „Volk“ bilden, ist die Demokratie eine Frage des Gemeinsinns: dass die Menschen ihr eigenes Leben regieren. Sie bezieht sich nicht auf eine Art der Regierung, sondern auf ein Ziel der Regierung. Sie handelt nicht von einer Gesamtheit von Institutionen, sondern von einem historischen Projekt. Mit dem Wort Demokratie wird nicht die Frage nach „einer“ spezifischen Regierung mit einer bestimmten Form aufgeworfen, sondern die Frage nach der Angelegenheit des Regierens selbst. Es wird nicht auf die bestehenden oder im Aufbau befindlichen Demokratien verwiesen, sondern auf die Sache selbst, auf die Demokratie als solche, auf die Macht des Volkes.

Dieser Begriff von Demokratie unterscheidet sich vom formalen Demokratiebegriff und von anderen politischen Auffassungen. Er entspricht zum Beispiel nicht dem Ausdruck „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ (Abraham Lincoln, Rede in Gettysburgh). Er ist auch nicht mit der sogenannten „direkten Demokratie“ gleichzusetzen. Er handelt von etwas anderem. Ich nenne es hier „radikale Demokratie“, ein Ausdruck, der die Erfahrungen und Debatten der Volkskämpfe aufgreift. Mit diesem Begriff wird die Demokratie in ihrer wesentlichen Form bezeichnet; er bestimmt die Sache selbst. Es handelt sich um einen Begriff, der auf zweideutige Weise die gesamte politische Theorie und die demokratische Debatte durchdringt: es wird mit ihm geflirtet und man weicht ihm aus, als ob niemand wagen würde, ihn von Grund auf und von Anfang bis Ende durchzudenken; als ob er zu radikal oder zu illusorisch wäre. Er ist das, was alle wollen, aber niemand erreichen kann.

Die Demokratietheorie vollzieht eine konzeptuelle Abweichung, die die Wurzel der Demokratie als die Macht des Volkes verfälscht. Sie definiert die Demokratie als eine Form der Regierung und als eine Gesamtheit von Institutionen, an die die Macht des Volkes ständig weitergeleitet wird. Es wird anerkannt, dass das Volk die Quelle jeder rechtmäßigen Macht ist, und gleichzeitig wird behauptet, dass das Volk in der modernen Gesellschaft die Macht haben, aber ihre Macht nicht behaupten und ausüben darf. Es wird legitimiert, dass die Parteien und die Medien die Demokratie in Beschlag nehmen; nicht nur dass sie die Wähler manipulieren und damit Wahlen zur Täuschung werden lassen, sondern auch, dass sie die Optionen der Wählerschaft einschränken. Es ist eine Theorie, die auf dem Satz Hegels aufbaut, der seit 1820 der Debatte über die Demokratie vorsteht: „Das Volk ist nicht in der Lage, sich selbst zu regieren.“ Von den Liberalen wie von den Sozialisten übernommen, überträgt er selbstgewählten Eliten die Ausübung der Macht und reduziert den politischen Kampf auf die Formen, wie sie konstituiert, überwacht und gegebenenfalls ersetzt werden sollen.

Die radikale Demokratie weist diese Abweichung zurück. Sie will, dass sich die politische Macht des Volkes in der Ausübung der Macht selbst ausdrückt und nicht nur in ihrem Ursprung oder ihrer Konstituierung. Sie ist keine Rückkehr zu einem früheren Zustand. Sie ist zwar in einer Vielzahl von Traditionen verhaftet, aber sie drückt den heutigen Kampf der Völker aus, die unter mehr oder minder despotischen oder demokratischen Regierungen gelebt haben, die die Form erlebt haben, in der die ursprünglichen Absichten korrumpiert und verfälscht worden sind, und die nun versuchen, diese Situation zu verändern. Sie wollen jetzt im „Zustand der Demokratie“ leben, sie wollen diese konkrete und offene Bedingung im Alltagsleben aufrechterhalten.

Die demokratische Verfasstheit wird aufrechterhalten, wenn ein Volk die gesellschaftliche Existenzweise annimmt, in der diese möglich ist, wenn es sich also mit den politischen Körpern ausstattet, in denen es seine Macht ausüben kann. Es gibt diesbezüglich keine klaren Optionen: wir haben, besessen von ideologischen Streitigkeiten, hundert Jahre lang nicht darüber nachgedacht. Aber bei der Suche danach öffnet sich der Blick auf die städtischen und ländlichen „Basis“-Gemeinschaften, die Transformation der Zivilgesellschaft und die Neuformulierungen der Rolle des Staates. Der Zapatismus befindet sich auf dieser Suche, indem er um die Macht des Volkes kämpft.

Gleichheit und Repräsentation

Der Sozialpakt, auf dem die modernen Demokratien basieren, wird zwischen vorgeblich homogenen und gleichgestellten Individuen geschlossen, die Wahlmehrheiten konstituieren, um sich auf Grundlage des Repräsentation­sprinzips zu regieren. Homogenität und Gleichheit sind jedoch reine Illusionen. Sie werden gewaltsam aufgezwungen, schaffen lediglich Ungleichheit und fördern Privilegien. Was die Wahlmehrheiten angeht, sind sie nichts als ein fiktives Ganzes von vermeintlich vernünftigen Individuen. Das System basiert auf dem Mythos, dass dieses Ganze das rationale Interesse jedes einzelnen ausdrücken und durch die Wahlstimme in eine politische Form gebracht werden kann. Dass also die Individuen mittels der statistischen Aneinanderreihung in der Lage wären, die Ergebnisse der politischen Aktion zu bestimmen. Es ist ein System, das überall zur Quelle von Korruption und Missregierung geworden ist, den unheilbaren Krankheiten der sogenannten demokratischen Gesellschaften.

Wir sind Personen, Knoten von konkreten Beziehungsgeflechten. Wir wollen es nicht nur bleiben (der Mensch kann gar nichts anderes sein), sondern auch die Gesellschaft auf eine Weise aufbauen, damit wir so behandelt werden können, wie wir sind, und nicht als Individuen und Massen.

Wir sind weder homogen und noch viel weniger gleich. Wir sind heterogen und unterschiedlich und wollen es auch bleiben: Um in Harmonie koexistieren zu können, verlangen wir die Achtung aller Personen, Völker und Kulturen auf Grundlage unserer Vielfältigkeit. Und wir wollen uns selbst regieren: das Volk soll seine Macht ausüben, um seine kollektiven Probleme zu lösen. Anstatt diese Macht auf den Markt oder den Staat zu übertragen, unter der Annahme, dass seine Vermittlung unumgänglich ist, und sich später über das Durcheinander zu beklagen, das sein Bürokratismus, seine Gefräßigkeit und Korruption verursacht, wollen wir uns von der sozialen Basis aus neu konstituieren, in politischen Körpern, in denen das Volk seine Macht ausüben kann. Gewisse beschränkte Funktionen, die nicht von diesen politischen Körpern getragen werden können, würden neuen Institutionen übertragen werden, in denen das Prinzip des gehorchenden Befehlens angewandt werden kann und nicht das der Repräsentation. Davon handelt der Zapatismus.

Die Zivilgesellschaft

Als Marcos, der Sprecher der Zapatisten, gefragt wurde, ob sie nicht zu sehr auf die Zivilgesellschaft setzen würden, antwortete er ohne Zögern: „Und warum sollten wir das nicht tun, wo sie doch schon mehrfach bewiesen hat, wozu sie fähig ist!“ Als ihm zu verstehen gegeben wurde, dass sie noch sehr unorganisiert und etwas langsam zu sein schien, bemerkte er lächelnd: „Und sie bewegt sich doch …“

Die Bezugnahmen auf die „Zivilgesellschaft“ sind eine Konstante bei den Zapatisten. Sie finden ein breites Echo, sind aber gleichzeitig auch eine Quelle von Verwirrung, die der langen und verworrenen begrifflichen und praktischen Geschichte dieses Ausdrucks zuzuschreiben ist. Es ist nicht notwendig, diese Geschichte nachzuzeichnen, um festzustellen, in welchem Zusammenhang der Ausdruck „Zivilgesellschaft“ in der letzten Zeit benutzt wird. In der heutigen Zeit werden damit die Volksbewegungen in Osteuropa und Lateinamerika identifiziert, die nicht die klassischen Formen der Klassenorgani­sationen oder Parteien angenommen haben, um autoritäre Regime zu ersetzen. Die theoretischen Referenten beziehen sich häufig auf Gramsci, benutzen aber auch Vorstellungen und Erfahrungen aus sehr verschiedenartigen Traditionen. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Autonomie der Organisationen, die sie bilden, ihre Unabhängigkeit vom Staat und ihr antagonistisches Verhältnis zu ihm. Die Zivilgesellschaft wird somit als Sphäre der Gesellschaft definiert, die sich auf autonome Weise in Opposition dazu organisiert, was der Staat bestimmt hat und/oder was direkt von ihm kontrolliert bzw. mit ihm in Verbindung gebracht wird. Sie wirkt nicht stellvertretend für andere Ausdrucksformen, die genauso antagonistisch sind und einen ähnlichen allgemeinen politischen Sinn haben. Sie ist beispielsweise nicht die „Partei der Avangarde“ als Agent einer historischen Veränderung. Im Unterschied zu einer Klasse oder einer Partei, die sich erheben, um die Staatsmacht zu übernehmen und von dort aus eine ihnen genehme Regierungsform einzurichten, verleiht die Zivilgesellschaft sich selbst die Macht sich zu erheben, bzw. um exakt zu sein, mit ihrer Mobilisierung lässt sie die Macht wirksam werden, die sie bereits besitzt. Anstatt den Staat zu besetzen und seine führenden Figuren auszutauschen, behauptet sie sich gegen ihn, drängt ihn an den Rand und kontrolliert ihn. Sie besteht nicht aus Massen: sie ist keine Herde, sondern eine Vielfalt von verschiedenen formellen und informellen Gruppen und Organisationen, von Leuten, die gemeinschaftlich aus einer Vielfalt von Motiven heraus handeln. Aus dieser organisatorischen Bedingung heraus, in kleinen Gruppen, führt sie nicht zur „Tyrannei der Mehrheit“: ihre Form zu handeln ähnelt dem Gesellschaftsmo­dell, dass der Erfinder des Ausdrucks „Tyrannei der Mehrheit“, Alexis de Tocqueville, als den besten Schutz davor ansah. Sie führt auch nicht zu einer bürokratischen Diktatur zugunsten der „Revolution“.

Diese durch die Volksbewegungen hervorgerufene historische Abwandlung der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs „Zivilgesellschaft“ bildet einen wesentlichen Bestandteil der politischen Anschauungen des Zapatismus.

Nein danke!

In der politischen Aktion auf das kollektive „Nein“ hin kann die umfassendste und stärkste Form die der Bejahung sein. Das „Nein“, das eine gemeinsam gefühlte Opposition vereinigt, enthält stets ein „Ja“: die Bejahung dessen, was man ist, was man will. Die Organisierung über die Zurückweisung dessen, was nicht gewollt wird, bejaht diese Pluralität, die die Welt ausdrückt, wie sie ist, und verstärkt die politische Kraft der Zurückweisung. Sie schützt damit die Initiative derer, die sich in ihren eigenen Räumen bestätigen und durch das gemeinsame Nein unterstützen. Die immer nach Anhängern heischenden Politiker und Parteien erachten es hingegen für unmöglich und wirkungslos, sich auf das „Nein“ zu konzentrieren. Sie suchen ständig nach bejahenden Vorschlägen, die von breiten Bevölkerungsgruppen geteilte Ideale aufgreifen sollen. Unweigerlich verraten sie die tatsächlichen Hoffnungen der Leute, treiben Handel damit und geben ihnen als Tausch dafür abstrakte Versprechungen zurück, die sie nicht erfüllen können.

Die „globalisierten“ Phänomene sind real und es gibt konkrete Subjekte, die sie vorantreiben, wie zum Beispiel die internationalen Institutionen oder die transnationalen Unternehmen. In diesem Zusammenhang wird es zunehmend sinnvoller, Koalitionen von Unzufriedenen aus sehr verschiedenen Völkern und Kulturen zu fördern, die diesen Phänomenen gegenüber eine ähnliche Opposition teilen und nicht über genügend Kraft verfügen, um sich ihnen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene entgegenzustellen. Um diesen Koalitionen einen angemessenen Inhalt zu geben, der ihre Kraft und Vitalität aufgreift, ohne ihre ursprünglichen Impulse zu verraten, müssen sie sich auf der Ebene dessen bewegen, was sie nicht wollen.

Die Zapatisten haben mit einem einzigen Wort „Basta!“ Millionen von Unzufriedenen aktiviert, die im Handumdrehen wirksame politische Koalitionen gebildet haben. Breite Schichten der Bevölkerung, die aus den verschiedensten Gründen mit dem herrschenden Regime unzufrieden waren, fühlten sich in diesem Ausdruck der Würde bestätigt und setzten sich in Bewegung. Die Zapatisten widerstanden der Versuchung, diese Bewegung zu leiten, sie um eine einzige Ideologie, eine einzige gemeinsame Lebensvorstellung oder einen einzigen politischen Vorschlag herum zu vereinigen. Auf diese Weise ermöglichten sie, dass die Bestätigung der verschiedensten Auffassungen der gemeinsamen Verweigerung mehr Kraft gab.

Das „Ya basta!“ dehnte sich schnell über die Grenzen von Mexiko hinweg aus. Von vielen geteilt, begann es, gemeinsame Verweigerungen und Abwehrhaltungen mit weltweit verbreiteten Phänomenen in Beziehung zu setzen. Und anstelle eines bürokratischen Apparats für die weltweite Koordinierung einer politischen Bewegung mit universalen Ideen und Vorschlägen wurde die Internationale der Hoffnung in Gang gesetzt: ein Netz aus zahllosen verschiedenartigen Autonomien, ohne Zentren und Hierarchien, in dem sich die verschiedensten Koalitionen von Unzufriedenen frei ausdrücken können, um die Kräfte und Regime zu demontieren, die alle unterdrücken.

Mit ausreichendem Nachdruck und Überzeugung „Nein“ zu sagen, kann heute die beste Form sein, „Ja“ zu sagen.

Der Weg der radikalen Demokratie

Im Verlauf der letzten Jahre haben breite soziale Gruppen ihr verbliebenes Vertrauen in die herrschenden Institutionen und in die Krisenverwalter verloren, deren bereits stark angeschlagenes Ansehen und schwindende Legitimität als Diener des öffentlichen Interesse sich ins Nichts aufgelöst hat. Es ist wenig wahrscheinlich, dass es der Propaganda der Regierungen und Parteien gelingen wird, das Vertrauen der Menschen in die Regierungsorga­nisationen und in die Ausrichtung bzw. Umorientierung der Staatsgeschäfte zurückzugewinnen. Aus diesen Gründen werden Präventivmaßnahmen ergriffen, um gegebenenfalls mit Zwangsmaßnahmen zu reagieren. Gleichzeitig werden hinter den Kulissen Abkommen getroffen, die Ausdruck der Neuzusammensetzung der politischen Kräfte widerspiegeln und gegebenenfalls erlauben sollen, Handstreiche auszuführen, in denen neue Krisenverwalter den Eindruck erwecken sollen, dass ein neues Dispositiv geschaffen worden ist, um so die soziale Unzufriedenheit in die entsprechenden Bahnen zu lenken. Auf diese Weise wird der tatsächliche Charakter der gegenwärtigen Lage verschleiert. Die Leute sind nicht in der Stimmung, sich in eine Volksrevolte zu stürzen, sondern sie suchen eher nach Wegen einer politischen Rebellion, eines friedlichen Aufstands. Man bereitet sich nicht auf den Bürgerkrieg vor, sondern auf einen Frieden der Veränderung. Und die Leute sind anscheinend auch nicht bereit, von dieser Absicht abzulassen und sich mit einigen kosmetischen Veränderungen zufriedenzugeben. Sie versuchen, die Gesellschaft durch die fortschreitende Schaffung politischer Räume der wirksamen sozialen Machtausübung in Richtung auf eine wirklich demokratische Gesellschaft zu verändern. Sie haben festgestellt, dass reine Forderungsbewe­gungen wie zum Beispiel die Gewerkschaften, die versuchen, den Abbau des Sozialstaates – der ein Ergebnis von langjährigen Kämpfen gewesen ist – und ihrer „Rechte“ zu verhindern, nur erreichen, den Prozess der Verschlechterung der Lebensbedingungen zu verlangsamen, ohne ihn aufzuhalten und dass sie gleichzeitig kontraproduktiv geworden sind: sie konsolidieren die Strukturen der politischen und wirtschaftlichen Macht, die eben genau diese Prozesse auslösen.

Die Zapatisten appellieren an eine zutiefst unzufriedene und überdrüssige Gesellschaft, die bisher nicht über die angemessenen politischen Kanäle verfügt, um sich zu artikulieren. Ohne über andere Optionen zu verfügen als die Vorgaben der Regierungen und Parteien, schien sie zur Passivität verurteilt zu sein und hat sich in lokale Räume zurückgezogen, um sich um unmittelbare Probleme zu kümmern, bzw. sie hat sich bestenfalls zur Durchsetzung spezifischer Angelegenheiten punktuell mobilisiert.

Der Vorschlag sieht eine kontinuierliche Kontrolle der gewählten bzw. ernannten Amtsträger vor. Dies bezieht sich sowohl auf die Zeit des Übergangs als auch auf das neue Verwaltungssystem. Es gibt keinen demokratischen Staat, der über irgendein rechtliches oder institutionelles Instrument verfügt, das in der Lage ist, die Korruption und die Tendenz der Herrschenden zu Maßnahmen gegen die sozialen Mehrheiten zu beseitigen. Eine militante politische Kraft mit moralischem Prestige und Mobilisierungskraft wäre in der Lage, gezielt gegen die „schlechte Regierung“ vorzugehen und sich genau in diesem Maße von ihr zu befreien.

Der Übergang zur Hoffnung

Als „Antithese zum Neoliberalismus“ praktizieren die Zapatisten eine Form der Politik, deren Schwerpunkt nicht in der Übernahme der staatlichen Macht liegt.

Ihre Kämpfe sind an einer Zivilgesellschaft ausgerichtet, die politisch wird, indem sie die politische Frage auf ein anderes Feld verlagert, wo die Ausübung der eigenen Macht in den Mittelpunkt rückt. Sie versuchen, Räume neuer politischen Beziehungen zu schaffen, in denen die herkömmlichen Gewaltverhältnisse keinen Raum haben, da hier niemand die Macht an sich reißen könnte: sie ist in den Händen von allen. In diesen neuen Verhältnissen würden sich die Zapatisten auflösen, da sie sich in etwas ganz anderes verwandeln würden; das gleiche würde mit den politischen Parteien und allen Formen der herrschenden politischen Aktivität geschehen.

Es gilt, das Paradoxon der gegenwärtigen Transformation zu lösen, die einerseits eine Vertiefung der formalen Demokratie und gleichzeitig ihre Umwandlung in etwas anderes, in eine radikale Demokratie, verlangt; es kommt dabei zu einer Stärkung des Nationalstaats und gleichzeitig wird über ihn hinausgegangen, sein Austausch vorbereitet. Die Lösung des Paradoxons kann im Rückgriff auf das rechtliche und verfassungsrechtliche Verfahren liegen, wenn dadurch formale demokratische Elemente der Gesellschaft erweitert werden, während gleichzeitig die herrschende politische Mythologie bekämpft wird und die Andersartigkeit und Autonomie der unabhängigen Organisationen und der Koalitionen von Unzufriedenen aufrechterhalten werden, aus denen sich die Zivilgesellschaft bildet.

Die radikale Hoffnung ist die Essenz der Volksbewegungen. Die Zapatisten haben sie zu neuem Leben erweckt, als das weltweite Reich der repräsentativen Demokratie und der globalisierten Ökonomie mit ihrem Rattenschwanz von Verwüstungen ein unumgängliches Schicksal für Mexiko und die Welt zu sein schien.

Die private Hoffnung und die öffentliche Verzweiflung sind die Brutstätten für die kollektive Manipulierung der Massen in den modernen Demokratien. Ihre führenden Vertreter sind unaufhörlich damit beschäftigt, alle Arten von Phantomen für die alltäglichen Katastrophen verantwortlich zu machen, während sie gleichzeitig den individuellen Erwartungen und dem Kampf des „Rette sich, wer kann!“ neue Nahrung geben. Der zapatistische Vorschlag erneuert das soziale Gefüge, das die persönlichen und kollektiven Hoffnungen artikuliert. Anstelle von neuen Versprechungen von Entwicklung und Wohlstand erobert er den ursprünglichen Sinn des Begriffes „Prosperität“ zurück, das lateinische pro sepere: „in Übereinstimmung mit der Hoffnung“.

Anstelle von illusorischen und entfremdenden Zukunftserwartungen von bankrotten Ideologien wirft der zapatistische Vorschlag die Möglichkeit eines Aufbaus einer Zukunft auf, die vom Volk, von den wirklichen Männern und Frauen definiert und bestimmt wird, die es in ihrem ganzen Pluralismus und ihrer ganzen Vielfalt bilden.

Anstelle des Managements der Hoffnungen der Leute, das das politische Handeln der Regierung und der Parteien bestimmt, erneuert er die wirklich demokratische Politik, in der die Kunst des Möglichen darin besteht, es auszudehnen: Sie ist die Kunst, das Mögliche des Unmöglichen zu schaffen.

gekürzt Zitiert von Günther Wersching

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