POSITIONEN & THEMEN
Von: Helmut Rizy (8.11.2016)
Buchbesprechung : „Die Ästhetik des Widerstands“ – Peter Weiss’ hunderster Geburtstag am 8. November ist ein gute Gelegenheit, sein großes Werk wiederzulesen.
Es gibt Bücher, die man gelesen haben soll, da sie zum Kanon der Literatur
zählen.
Vielfach sind es jene Bücher, die seit Jahren ungelesen die Bibliotheken
zieren. Wer hat James Joyce’ „Ulysses“ gelesen, wer Marcel Prousts „Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit“, wer Robert Musils „Mann ohne
Eigenschaften“, von Dantes „Göttlicher Komödie“ ganz zu schweigen? Und
es gibt Bücher, die man gelesen haben muss, weil sie zu einer Zeit in einer
breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Das traf in den 80er Jahren des
vorigen Jahrhunderts insbesondere unter Linken auf Peter Weiss’ Trilogie
„Die Ästhetik des Widerstands“ zu. Lesekreise und Diskussionsrunden in
großer Zahl, Kolloquien, Seminare, selbst wissenschaftliche Konferenzen im
gesamten deutschsprachigen Raum beschäftigten sich mit dem umfangreichen Werk,
das sowohl in der BRD als auch der DDR erschienen war.
Jedenfalls hat dieses doch ziemlich anspruchsvolle Werk innerhalb kurzer Zeit
eine außergewöhnliche Publizität gefunden. Angesichts des bevorstehenden
100. Geburtstags von Peter Weiss wollte ich wissen, was mich wie so viele
andere an dem Roman so sehr beeindruckt hat und was von der einstigen
Faszination nach mehr als 30 Jahren geblieben ist. Dafür habe ich „Die
Ästhetik des Widerstands“ wiedergelesen.
Vielfach wurde Weiss’ Roman als Jahrhundertbuch bezeichnet, wogegen
mitunter eingewandt wurde, dass eine solche Bezeichnung potentielle Leserinnen
und Leser abschrecken könnte. Aber selbstverständlich gab es von bürgerlicher
Seite auch Unverständnis und Ablehnung; Fritz J. Raddatz seinerzeitiger Verriss
in ‚Die Zeit’ war deren deutlichster Ausdruck. Für viele junge Leser war es
aber ein Buch, das ihnen die jüngste Geschichte näherbrachte, und zwar so, wie
sie sie im Geschichtsunterricht nicht erfahren hatten. Der Kampf gegen den
Faschismus steht zwar im Mittelpunkt, aber es geht auch um einen Widerstand, der
darüber hinausgeht, der Widerstand gegen die Herrschaftsmechanismen der
bürgerlichen Gesellschaft, der Widerstand gegen die von ihr betriebene
Aussperrung der ihr gegenüberstehenden Schichten aus den Bereichen der Kultur,
Kunst und Wissenschaft.
„Die Ästhetik des Widerstands“ war für die Leserinnen und Leser, die sich
durch die mehr als 1.000 Seiten durchgekämpft hatten, ein Buch, das ihr
Jahrhundert durchleuchtet hat, also durchaus auch in diesem Sinn ein
Jahrhundertbuch. Womit sich die Frage stellt, inwieweit es das vergangene
Jahrhundert auch überdauert hat. Peter Weiss’ proletarischer Ich-Erzähler
kommt an einer Stelle zum Schluss: „Beim Einblick in unsre eigne Geschichte
konnte es manchmal scheinen, als seien wir immer die Unterlegnen gewesen, als
habe sich nichts geändert an den Gewalten, die uns gegenüberstanden, der
Oktober dann aber war der Beweis dafür, daß sich in all den Anläufen eine
Kraft aufgespeichert hatte, die mehr Gewicht besaß, als alles, was uns früher
gebunden hatte.“ Allerdings ist die Sowjetunion mittlerweile auch Geschichte
und der Oktober reiht sich ein in die Zahl jener erfolglosen Versuche, die
Unterlegenheit tatsächlich zu beenden.
Wenn es an einer Stelle heißt: „Die Bekämpfung des Faschismus, die
Solidarität mit dem Sowjetstaat, dies waren die absoluten Notwendigkeiten, die
sich aus unsern Erfahrungen ergeben hatten“, so ist sich der Erzähler
allerdings durchaus bewusst, dass dieser Sowjetstaat noch keineswegs dem
entsprach, wofür es zu kämpfen galt. Man ist nicht blind gegenüber den
Fehlern, er blieb jedoch der Hoffnungsträger. „Verbunden mit dem Wunsch nach
grundlegender Verändrung, nach dem Aufbau eines neuen Daseins, war die
Empfindung der Zusammengehörigkeit mit dem Land, in dem die Kapitalherrschaft
gestürzt und die Arbeitermacht errichtet worden war. Unsre Empörung und
Auflehnung wäre ohne Hoffnung gewesen, hätte dieses Land nicht etwas
Unzerstörbares dargestellt, etwas, das allen Kränkungen, aller Mißgunst,
allen Besorgnissen standhalten mußte. Aus unsrer eignen Verzweiflung heraus
verstanden wir, daß es auch dort zu Anfällen von Umnachtung, von Raserei
kommen konnte. Wir stimmten der Unduldsamkeit zu, mit der dort vorgegangen
wurde.“
Der Zugang zu Kultur, Kunst und Wissenschaft mag sich auch hier zwischenzeitlich
verändert haben, der Roman macht jedoch deutlich, wo immer noch die Grenzen
sind, und die Barrieren werden ja auch jeweils an die Bedürfnisse des Kapitals
angepasst.
Gegen den Faschismus
Die entscheidende Frage für Weiss’ Ich-Erzähler und seine beiden Mitstreiter
aus dem ersten Teil der Trilogie war jedoch, wie der wachsende Faschismus
bekämpft werden könne. Und gerade das war wohl eines der Momente, die für die
nachfolgende Generation, die sich dann mit der Roman-Trilogie auseinandersetzte,
maßgeblich waren: Hätte der Faschismus verhindert werden können?
„Noch bei den Reichstagswahlen im März Dreiunddreißig hätten Kommunisten
und Sozialdemokraten, wären sie zum Umdenken fähig gewesen, eine proletarische
Front von zwölf Millionen mobilisieren können. Die Kommunistische Partei aber
wartete auf den revolutionären Umbruch, und die sozialdemokratische Leitung zog
eine Politik des Stillhaltens und der Anpassung vor und sah ihre Aufgabe darin,
gegenüber einer rechtmäßigen Regierung die Rolle fairer Kritiker einzunehmen.
… So konnte die Zerschlagung der kommunistischen Organisationen und die
Auflösung der Sozialdemokratischen Partei, der Gewerkschaftsverbände
unbehindert durchgeführt werden,“ ist Weiss’ Resümee beziehungsweise das
seines Erzählers.
Dabei stellt der Autor dem Erzähler, der sich zu den Kommunisten hingezogen
fühlt, dessen Vater, einen altgedienten Sozialdemokraten gegenüber, der
allerdings keineswegs mit der Politik der Parteiführung übereinstimmt, hat er
doch selbst seinerzeit in Bremen am Kampf um eine Räterepublik teilgenommen.
Besonders anschaulich wird dies in der Schilderung: „Ich sah …, wie mein
Vater während der letzten drei Jahre gealtert war, sein Gesicht war müde, das
Haar grau, nie kam er von dem Gedanken los, daß sich die Arbeiter in
Deutschland von ihrer eignen Unentschlossenheit hatten niederzwingen, von ihrer
eignen Blindheit hatten ausliefern lassen. Sein rechtes, von den Geschossen
eines zaristischen Maschinengewehrs getroffnes Bein nachziehend, die linke
Schulter steif nach der Verletzung auf der Kaiserbrücke, für die eine
Verwundung mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse belohnt, für die andre als
Staatsfeind verfolgt, wanderte mein Vater in der Küche umher …“
Aus seiner eigenen Erfahrung heraus gesteht der Vater ein, dass der Kampf in
Russland erfolgreicher gewesen war. „Was hatten denn wir erreicht, fragte er.
Nicht mal den Achtstundentag hatten wir gewonnen. Die Revolution hatte uns den
alten Herrschaftsapparat wiedergegeben, hatte das heilige Recht auf Eigentum,
Ausbeutung und Profit sichergestellt.“ Und er ist sich der Rolle der SPD
durchaus bewusst: „… es zeigte sich auch, daß nicht einmal mehr die von
Bernstein und Kautsky genährte Illusion des friedlichen Hineinwachsens in den
Sozialismus, auf dem Weg der Reformen bestand, sondern daß sich die
Sozialdemokratische Mehrheitspartei zum Zentrum der Gegenrevolution gemacht
hatte.“
Und doch findet er nicht zur KPD. „… doch stieß es mich ab, wie in
fortwährendem Zwist eine Führungsgruppe die andre ersetzte, und wie, mit einer
Terminologie, die die sozialdemokratische an Gehässigkeit übertraf, die
aktivsten, die ergebensten Kräfte, ohne die es die Partei und die
Internationale nicht gegeben hätte, plötzlich, weil sie nicht die jeweils
richtige Linie vertraten, von ihren eignen als Sektierer, als Abtrünnige
verstoßen wurden,“ lässt ihn Peter Weiss seinen Entschluss erklären, wieder
der SPD beizutreten.
Und das obwohl auch für ihn ein gemeinsam mit den Kommunisten geführter Kampf
gegen den Faschismus vordringlichstes Ziel ist. Doch der wird immer wieder
hintertrieben. „Die parteipolitischen Interessen waren dem
sozialdemokratischen Vorstand wichtiger als der Versuch, in letzter Stunde zu
einer gemeinsamen Front zu finden. Nur ein Krieg, so wurde behauptet, könne die
nationalsozialistische Diktatur beseitigen. Die Katastrophe wurde dem Risiko
vorgezogen, ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei einzugehn, bei dem die
Sozialdemokratie vielleicht ins Hintertreffen geraten könnte.“
In der Auseinandersetzung zwischen Weiss’ Ich-Erzähler und dessen Vater, obwohl in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geführt, findet sich heute angesichts des Erstarkens totalitärer Kräfte ein gehäuftes Maß an Aktualität. „Der Faschismus war für uns die offene Diktatur des Finanzkapitals, war Waffe der reaktionärsten Kräfte, im Dienst ihres Interesses, Europa neu aufzuteilen. Diese Formel aber, sagte mein Vater, erklärte noch nicht, warum schon im Jahre Dreißig ein großer Teil der Arbeiterklasse den Nationalsozialisten seine Stimme gab und warum die Zahl der Wähler des Faschismus zu den siebzehn Millionen im Frühjahr Dreiunddreißig anwachsen konnte.“ Und: „Die ökonomische Notlage, fügte er hinzu, hemmte uns alle, doch auch sie kann nicht verantwortlich gemacht werden für die Passivität, den Fatalismus, die Unfähigkeit einzugreifen. Und hiermit hatte mein Vater die Frage gestellt, auf die es ankam, warum die Arbeiter in der Partei blieben, deren zentraler Programmpunkt der Antikommunismus, die Bekämpfung der Revolution, die Unterstützung der reaktionären Gesellschaft war.“
Der Pergamon-Altar
Das Besondere und auch Überzeugende an Peter Weiss’ Romantrilogie ist aber
auch heute noch das umfassende Herangehen an den Widerstand und dessen
Geschichte, aber auch die Intensität, mit der er auf die Thematik eingeht.
„Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu
Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso,
einem aufgestützten Arm, einer geborstenen Hüfte, einem verschorften Brocken
ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs …“
Einen antifaschistischen, hochpolitischen Roman mit der Beschreibung antiker
Skulpturen zu beginnen, das war, als dieser erschien, außergewöhnlich. Doch
mich nahm dieser Anfang sofort für das Werk ein. Ich weiß nicht, wie er auf
Leserinnen und Leser wirkte, die nicht zuvor schon des öfteren meilenweit in
der Mittagshitze gewandert waren, um ausgegrabene und teilweise wiedererrichtete
Reste antiker griechischer Bauwerke zu besichtigen und sich schließlich
angesichts eines kunstvoll gestalteten Sarkophags von einem Fremdenführer sagen
zu lassen: „Everything handmade, with chisel and hammer!“
Auch die Künstler, die im Auftrag König Eumenes II. in der ersten Hälfte des
2. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung den Pergamon-Altar gestaltet hatten,
den die drei Antifaschisten an diesem 22. September 1937 bei ihrem
Museumsbesuch in all seinen Details betrachteten, hatten keine anderen Werkzeuge
zur Verfügung gehabt, um im Fries den Kampf zwischen den Göttern und den
Giganten darzustellen. Den drei Betrachtern – dem Ich-Erzähler sowie
Heilmann und Coppi, wobei Weiss sich hier der Namen zweier vom NS-Regime
hingerichteter deutscher Widerstandskämpfer bedient – geht es aber nicht so
sehr um die Bewunderung der außerordentlichen Kunstfertigkeit, mit der dieser
geschaffen wurde, sondern darum, was dessen Auftraggeber damit bezweckt hatte:
„… und die Meißel und Hämmer der Steinmetzen und ihrer Gesellen hatten das
Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht
vorgeführt.“
Viele Jahre nach der Lektüre der „Ästhetik des Widerstands“ fand ich, dass
Peter Weiss nicht der erste war, der die Skulpturen des Pergamonaltars mit
bewundernder Eindringlichkeit beschrieben hat. Der russische Autor Iwan
Turgenjew begeisterte sich schon 1880 in einem Schreiben an den Redakteur der
Zeitschrift ‚Vestnik Jevropy’ über „die Falten der Gewebe, das
schimmernde Wogen der Locken, sogar das sich sträubende Haarbüschel über den
Hufen der Hengste.“ Und er stellte fest: „Unter den Rädern Apollons stirbt
ein überrannter Gigant, – kaum in Worte fassen läßt sich der bewegende und
tiefbewegte Ausdruck, mit dem der nahende Tod seine schweren Gesichtszüge
verklärt; allein schon seine herabhängende, erschlaffte, gleichfalls sterbende
Hand ist ein Wunder der Kunst. Um dieses zu bestaunen, würde es sich lohnen,
eigens nach Berlin zu reisen.“
Den Wunsch, den Pergamon-Altar nicht nur auf den verfügbaren Abbildungen,
sondern in voller Größe zu sehen, weckte aber vor allem Peter Weiss bei vielen
Leserinnen und Lesern mit seiner Beschreibung. Für manche und manchen von
ihnen – mich eingeschlossen – blieb diese Verbindung über die Jahrzehnte
präsent; wird der Pergamon-Altar erwähnt, denkt man unwillkürlich: Peter
Weiss.
Allerdings ging es dem Autor ja um das Beispiel des Widerstands, den er im
Giganten-Fries dargestellt sehen wollte. Die erdgeborenen Giganten, Kinder der
Gaia, erheben sich gegen die olympischen Götter, die sich mit dem Sieg über
die ebenfalls von Gaia gezeugten Titanen nicht zufrieden gaben. Gewaltig ist der
Sturm auf den Olymp und ihr Kampf hätte erfolgreich sein können, wäre nicht
Herakles, ein Sterblicher, den Göttern zu Hilfe gekommen.
Erschienen in der Volksstimme, No. 11 November 2016