KOMMUNISTISCHE PARTEI ÖSTERREICHS

Die Kehrseite einer Illusion



"Die Vereinigten Staaten hielten sich für allmächtig, außerhalb jeder Gefahr. Aber keine Supermacht ist in der Lage, in einer Welt, die so kompliziert wie die unsrige ist, eine absolute Hegemonie auszuüben." Der britische Historiker Eric J. Hobsbawm, Autor des Buches "Das Zeitalter der Extreme", im Gespräch (Volksstimme 41/2001). Die linke Wochenzeitung Volksstimme kann zum Preis von ÖS 400,--/ Jahr abonniert werden. E-Mail an volksstimme@magnet.at).


Am selben Tag, als die Attentate von New York und Washington die Welt geschockt haben, äußerten mehrere Kommentatoren die Idee, dass nun das 21. Jahrhundert begonnen habe. Was halten Sie von einer solche Position, waren es doch Sie, der 1999 geschrieben hatte, dass das kurze 20. Jahrhundert nicht nur mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zu Ende geht, sondern mit einer generellen Krise aller Systeme.


Zunächst einmal scheint es mir notwendig zu vermeiden, in jene Sorte von emotionaler Rhetorik einzutauchen, die seit zehn Tagen alles überschwemmt. Die Vorstellung, dass sich seit dem Attentat von New York alles grundsätzlich geändert habe, die Idee, dass es heute darauf ankäme, einen weltweit aktiven Superkriminellen mit Hilfe einer Art von James Bond zu verfolgen, oder die Auffassung, dass es sich darum handle, die Gerechtigkeit wieder herzustellen – alles das erscheint mir nicht seriös. Die reale Situation hat nichts zu tun mit diesen vorgefertigten Phrasen, die von einem "Krieg, der eigentlich keiner ist", sprechen, von dem man nicht weiß, wer ihn gegen wen wirklich führen soll?
Die allerwichtigste Sache ist vielleicht nun, angesichts der enormen Propagandawelle, die uns aus den Vereinigten Staaten überrollt, ein bestimmtes intellektuelles Gleichgewicht zu erhalten. Die Attentate von New York und Washington sind der extreme Ausdruck eines Phänomens, das nicht wirklich neu ist, nämlich der internationale Terrorismus, der grenzüberschreitend und jenseits von Grenzen operiert. Das soll keineswegs heißen, dass man nichts tun soll: In einem bestimmten Sinn handelt es sich darum, die internationale Ordnung gegen diesen Typ der Bedrohung zu verteidigen. Das hat, das sei nebenbei gesagt, auch nichts zu tun mit Ideologie – weder mit einer "westlichen" noch mit einer anderen, welche sie auch sei -, sondern liegt im Interesse aller Staaten der Welt, darunter Russland, China und Kuba?
Bis jetzt betrifft die allerwichtigste Konsequenz der Attentate in Amerika die Weltwirtschaft, aufgrund eines Zusammenbruchs der Kurse auf den internationalen Finanzplätzen. Sicherlich, dies wurde nicht durch die Zerstörung des World Trade Center hervorgerufen. Die Welt befand sich schon davor am Beginn der Rezession: Die Attentate allerdings haben diesen Prozess beschleunigt, genauer gesagt, sie haben ihn kristallisiert.

Sie haben auch zur Diskussion gestellt, dass der Terrorismus eine Antwort erfordert. Welche Antwort?

Das ist eine weitere Frage, bei der es sich darum handelt, sich von der Rhetorik zu befreien. Grundsätzlich, seit rund 30 Jahren, haben sich die Beziehungen zwischen der Macht der Staaten – darunter auch der Supermächte – und den Aktivitäten, die im Inneren der Staaten existieren, verändert. Die wichtigsten Staaten haben – insbesondere aufgrund des Kalten Krieges – das Monopol des Besitzes von Gewaltmitteln verloren. Jedermann, oder fast jedermann, hat die Möglichkeit Waffen zu verwenden, sogar bewaffnete Kräfte einzusetzen. Und sogar im Inneren von Staaten, die ziemlich stabil sind – ich denke an das Vereinigte Königreich, an die USA und an Spanien – existieren solche Kräfte, zwar relativ schwach und auch nicht in der Lage die Situation dieser Staaten tatsächlich zu verändern, sogar von relativ kleinen Staaten. Aber andererseits ist die Idee, dass es heute praktisch möglich wäre, dass der Staat, der über die stärksten bewaffneten Kräfte verfügt, in der Lage ist, mit diesen Gruppen oder diesen Personen auf eine einfache Weise fertig zu werden, nicht realistisch. Man muss mit ihnen leben, man muss zweifelsfrei die Situation durch militärische Kräfte unter Kontrolle halten, aber es handelt sich nicht um ein Gegenüber, das man so ganz einfach ohne Probleme eleminieren könnte.
Wir haben es mit politischen und sozialen Problemen zu tun, mit denen man sich politisch genauso wie militärisch auseinandersetzen muss.

Wollen Sie damit sagen, dass die Welt wirklich ganzheitlich geworden ist und dass niemand, kein/e BürgerIn, keine Gruppierung und auch kein Staat sich aus dieser Welt heraushalten kann?

Ja. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der Zeit und Raum praktisch abgeschafft sind, eine Welt, in der die Freizügigkeit es viel leichter möglich macht, dass sich Ereignisse, wie jene, die wir jetzt in den USA erlebt haben, statt

In "Zeitalter der Extreme" geht es Ihnen im wesentlichen darum, darauf aufmerksam zu machen, dass die kapitalistische Wirtschaft die Welt einer Implosion oder einer Explosion entgegentreibt, und selbst wenn Ihnen die Gefahr eines neuen Weltkrieges nicht gegeben scheint, sei die Menschheit mit immensen Problemen konfrontiert – demographischen, ökologischen, ökonomischen, politischen, intellektuellen - darunter das Anwachsen des Fanatismus und des Irrationalismus. Führen die aktuellen Ereignisse Sie dazu, diese These zu verändern oder Ihre Formulierungen zu überdenken?

Ich glaube, dass diese Analyse gültig bleibt. Die Attentate von New York verändern nichts am Ansatz, den Sie zitiert haben. Ein Weltkrieg, sagen wir in der traditionellen Form, scheint mir unmöglich, außer möglicherweise eines Tages zwischen den Vereinigten Staaten und China. Aber das ist nicht von heutiger Aktualität. Soweit es um große Territorialkriege geht, die man ?mittlere? nennen könnte, so haben diese niemals aufgehört. Vor allem im Mittleren Osten und in Südasien. Und tatsächlich, wenn man heute in Washington, in London und möglicherweise in Paris über einen Krieg – ich weiß nicht gegen wen – redet, so handelt es sich nicht um einen tatsächlichen Krieg nach der alten Art, sondern um Operationen eines anderen Typs. Die neugestellte Frage in der aktuellen Situation ist die nach der Existenz unabhängiger und souveräner Staaten: Und zwar bis zu dem Punkt: Können sie weiterbestehen angesichts großer Nachbarn? Es ist heute möglich geworden, einen Staat – beispielsweise Afghanistan – ohne Weltkrieg zu eleminieren. Der Druck, den ein hegemonistischer Staat auf einen weniger wichtigen ausüben kann, ist beträchtlich geworden. Es handelt sich dabei um ein eher neues Phänomen, das zu Zeiten des Kalten Krieges durch den Bipolarismus eingedämmt war, aber heute, durch den Fall des Kommunismus, hat es sich verstärkt.
Andererseits existiert nicht mehr nur eine einzige Hegemonialmacht, und selbst wenn ich an die Vereinigten Staaten denke, sind diese nicht in der Lage, die Welt zu beherrschen – genauso wenig wie irgendeine andere Supermacht -, obwohl sie über eine größere Bewegungsfreiheit verfügen als irgendein Staat in der Vergangenheit. Die zweite große Krise, die sich aus meiner Sicht abzeichnet, ist die, dass in der Praxis die Probleme des Imperialismus oder eher des Kolonialismus neuerlich in Erscheinung treten. Dabei handelt es sich möglicherweise um die allerbedeutendste Neuheit der post-sowjetischen Epoche. Wir sehen besetzte Staaten, deren Innenpolitik durch die Anwesenheit auswärtiger Kräfte kontrolliert wird, wie das auf dem Balkan der Fall ist. Man spricht heute über die Vertreibung des Regimes in Afghanistan, was sehr wünschenswert wäre – aber seine Ersetzung durch ein provisorisches Regime unter der Kontrolle der Vereinten Nationen, wie ich es sagen höre, erinnert mich an die Zeit nach 1918, als die neuen Kolonien als Völkerbundmandate getarnt wurden.

Welche Risiken enthält Ihrer Meinung nach eine solche Option?

Das allergrößte Risiko – und das hat sich schon seit rund zehn Jahren erwiesen – ist, dass die koloniale Okkupation nichts verbessert. In Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien hat die neue fremde Okkupation keineswegs die gewünschte interne Stabilität erbracht?

Aus welchen Gründen meinen Sie, dass die amerikanische Supermacht nicht mehr in der Lage wäre, die Welt zu dominieren?

Die Welt ist zu groß und zu komplex?

Die Illusion, dass diese Supermacht in der Lage wäre, den ganzen Planeten zu regieren, existiert aber trotzdem und auch in Europa.

Das ist eine amerikanische und weltweite Illusion. Bis zum World Trade Center waren die Führer der Vereinigten Staaten, wie ich glaube, zu triumphalistisch. Sie hielten sich für allmächtig und außerhalb jeder Gefahr. Im 19. Jahrhundert, als das britische Empire eine weltweite Hegemonie ausübte, waren die englischen Führer realistisch genug und ausreichend intelligent, um der Ambition, alles zu kontrollieren, zu widerstehen. Sie wussten, dass das Maximum, das man tun konnte, darin bestand, die Situation im Sinne des Erhalts der angesammelten Macht zu manipulieren. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass man auch nicht vorgeben durfte, zu dominieren – nicht in Europa und auch nicht in den Amerikas. Ich fürchte, dass wir nicht mehr genügend Zeit haben – und das ist keinesfalls ein Werturteil – bis die neue Hegemonialmacht die Grenzen ihrer Kapazitäten und ihres Ein

Sie haben davon gesprochen, dass man die Lösungen auf der Ebene der Politik suchen muss?

Die Vereinigten Staaten müssen von neuem überlegen, was sie tun können. Was den Rest anbelangt, so glaube ich nicht, dass es in erster Linie die Beziehungen zwischen den Staaten sind, die so problematisch wären – und selbst wenn sie problematisch wären, hängt nicht so viel von ihrer Lösung ab. Das Problem liegt auf der Seite der großen Strukturen, die hinter den Staaten stehen und die die Welt in den nächsten Jahrzehnten beherrschen werden: Ich denke an die Wirtschaft und an die Dialektik zwischen der Wirtschaft und den Regierungen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit ist die Weltwirtschaft in einer Depression: Aber im Inneren dieser Ungewissheit gibt es das Anwachsen der Ungleichheiten zwischen den Ländern und in jedem einzelnen Land. Wenn man von der ?Krise der Ökonomie? spricht, so meint man absolut unterschiedliches, je nach dem, ob es sich um reiche Länder handelt, um ausreichend versorgte Länder, um stabile Länder, oder um arme bzw. um Schwellenländer, beispielsweise Brasilien, Argentinien oder Korea? In einem Land wie Argentinien beispielsweise ruft eine ökonomische Krise praktisch augenblicklich eine dramatische politische Krise hervor. Es ist durchaus denkbar, sogar in Europa, dass die dadurch entstehenden Konsequenzen tragisch sind, auch für Frankreich, Großbritannien oder Deutschland?
Das andere Problem ist ideologischer Natur: Es gab das Debakel der alten Ideologien, die darauf zielten, die Völker zu mobilisieren und die sich auf die Tradition der Aufklärung bzw. der großen Revolutionen – die amerikanische, die französische, die russische? – beriefen. Selbst jenseits der Linken betrifft diese Krise die gesamte Tradition, die auf dem Rationalismus und auf den Hoffnungen beruhten, die die politischen Projekte des 18. Jahrhunderts auslösten. Das hat einen enormen Raum für andere Kräfte hinterlassen. Ich denke nicht nur daran, was sich in der moslemischen Welt abspielt, sondern auch daran, was man in einem geringeren Ausmaß auch in unseren Ländern beobachten kann: die Fremdenfeindlichkeit z.B.
Der andere Aspekt dieser Krise ist, dass die Ideologie des totalen Laissez-faire einen großen Teil der Staaten und der internationalen Institutionen erobert hat, und das mit unheilvollen Folgen. Darunter auch die Möglichkeit transnationaler Aktivitäten wie Kriminalität und Terrorismus. Paradoxer Weise ist es aber so, dass ich gerade darin einen kleinen Hoffnungsschimmer sehe. Die Attentate von New York und Washington haben auf tragische Weise demonstriert, dass die totale Freiheit des Marktes und des Geldverkehrs es nicht erlaubt hat, jene Gefahren, in denen sich die Vereinigten Staaten befanden, unter Kontrolle zu halten. Ich habe Lionel Jospin sagen hören, dass man dem Markt nicht die unkontrollierte Freizügigkeit überlassen darf, und er hat empfohlen, sich des Vorschlages des Keynsianischen Ökonomen James Tobin zu bedienen. In der aktuellen Situation angesichts der Risiken eines enormen Zusammenbruchs der Finanzplätze sind es die Regierungen, darunter auch die der Vereinigten Staaten, die damit beginnen, sich um Kontrollen und Regulierungen, um öffentliche Einmischung genau in diese Prozesse zu kümmern, was seit gut 20 Jahren alle Ideologen der freien Märkte auch in Frankreich verweigert haben. Ich beginne daher an die Möglichkeit zu glauben, dass die Gewalt dieser puren und harten Ideologie gebremst wird.

Mit Ihrem "Zeitalter der Extreme" stellen Sie faktisch eine Weltgeschichte vor, die sich nicht auf die Konfrontationen zwischen den großen Mächten beschränkt, sondern auch zeigt, was sich in Syrien, in Brasilien oder Südafrika ereignete und uns über die Tendenzen der Epoche aufklären kann. Welche Situationen, welche Ereignisse über die unmittelbare Aktualität hinaus

Was mich interessiert und aktuell beschäftigt ist das Schicksal von vier "Regionen". Zunächst Indien, wo man auf der einen Seite eine spektakuläre Zunahme der Wirtschaftskraft und der Intellektualität, die man schon in der Vergangenheit und auch heute immer wieder unterschätzt hat, beobachten kann, und auf der anderen Seite einen Aufschwung des integralistischen Hinduismus, der ausgrenzend wirkt, antimoslemisch ist, antirational, antisekulär, antiweltlich und reaktionär, ja sogar faschistoid wirkt in der Innenpolitik.
Des weiteren China, das möglicherweise ein ökonomischer Gigant werden wird, sogar ein politischer Gigant des 21. Jahrhunderts. Seine Zukunft ist vielversprechend, aber niemand weiß, welcher Art sie sein wird? Die dritte Gruppe sind die tragischen Regionen, das heißt das subsaharische Afrika und auch die Länder der ehemaligen UdSSR. Dort gibt es ein ökonomisches, soziales und intellektuelles Drama, das man im Westen noch nicht in seiner gesamten Tragweite erfasst. Beispielsweise ist die aktuelle Krise der russischen Landwirtschaft noch drastischer als die der sowjetischen Landwirtschaft nach der Kollektivierung. Und schließlich gibt es Regionen mit ungewisser Zukunft, wie z.B. Europa, von dem man zumindest eine Sache mit genügender Klarheit sagen kann: das traditionelle europäische Projekt ist in der Sackgasse. Das sind die Weltregionen, die mir heute als die interessantesten erscheinen, wobei ich weiß, was die Chinesen sagen: Man soll nicht in interessanten Zeiten leben.

Nachdruck aus "Humanité".
Übersetzung: Walter Baier


Zur Person Eric J. Hobsbawm

Eric J. Hobsbawm, geboren 1917 in Alexandria in Ägypten, verbrachte seine Schulzeit in Wien und Berlin. 1933 musste er nach London emigrieren. 1947 begann Hobsbawm seine Lehrtätigkeit an der Universität London. Derzeit unterrichtet er an der New School for Social Research in New York.
Eric J. Hobsbawm hat dem Studium der kapitalistischen Entwicklung sein Leben gewidmet. Er hat meisterhafte Synthesen des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, bis zum "Zeitalter der Extreme", das ausgehend von einer Übersicht über das ?Kurze 20. Jahrhundert? sich jeder Vereinfachung entzieht und herausarbeitet, wie die Barbarei des Ersten Weltkrieges die gesamte Periode zwischen 1914 und 1989 strukturiert hat. Doch Hobsbawm – er bezeichnet sich als ?Kommunist, der seit 1946 in einen Krieg gegen den Stalinismus? eingetreten ist – beschränkt sich nicht nur auf die Politik: Vom Kampf für die Emanzipation der Frauen bis zur Entkolonialisierung, von der ?Hegemonie? Hollywoods bis zu den Transformationen der Arbeit lädt er ein zu einer ganzheitlichen Sicht. Diese Sicht ist gekennzeichnet durch zahllose Fragen, von denen er oft genug welche auch unbeantwortet lässt. In seinem Werk, das eine breite LeserInnenschaft gefunden hat, unterbreitet er auch die – paradoxe – These, der zufolge die UdSSR in einer bestimmten Weise dem liberalen Kapitalismus nach der Krise 1929 zu Hilfe geeilt ist, zunächst indem sie ihm half, Nazideutschland zu besiegen und später indem sie ihn zwang, sich zu ?reformieren, um der mächtigen Arbeiterbewegung Stand zu halten?. Als teilnehmender Beobachter in Bezug auf die Geschichte de

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